Die Farbe der Träume
ihn verlassen hatte. Um ihn herum schien alles, jede Kreatur und jedes Ding, Zufriedenheit auszustrahlen – die Wasservögel, die aus dem Fluss tranken, die Ratten, die auf seinem Claim herumhuschten und nach Nahrung suchten, und die Lieder, die die Glasgower an den Abenden sangen. Nur ihm fehlte sie.
Und seine Nächte waren trostlos. Manchmal, wenn er das Mondlicht hinter den Zeltklappen sah, glaubte er, den fernen Klang von Will Seftons Blechflöte zu hören. Er wusste, dass der Junge dafür zu weit weg war, und trotzdem hörte er ihn und fragte sich, mit wem er jetzt wohl das Lager teilte. Einer der Schotten hieß Hamish, aber das war alles, was er wusste.
Ich spreche nie den kostbaren Taufnamen eines Mannes aus, Mister Blackstone.
Lasse nie zu, dass er mein Schatz wird.
II
Chen Pao Yi stand gerne sehr früh auf.
Manchmal schlief er in seiner selbst gebauten Hütte aus Steinen und Sackleinen, und manchmal schlief er in der dunklen Höhle dahinter, der Höhle, die in das Herz des Bergs führte, und Pao Yi dachte, so ähnlich wie die Stille in dieser Höhle müsse die absolute Stille im Universum sein.
Er stand gerne mit der Morgendämmerung auf, um hinaus auf den Berghang zu treten, den Tau unter seinen Füßen zu fühlen und so den hellen Tag zu begrüßen. Es war jetzt April, und bald würde der Winter kommen, es war schon kalt so früh am Morgen, aber das machte ihm nichts. Er wusste, wie man Kälte ertrug. Er kochte auf dem Feuer Wasser für seinen Tee, den er häufig mit tarata-Blättern aromatisierte, und während das Wasser heiß wurde, inspizierte er seinen Garten, und danach saß er vor seiner Hütte und trank den Tee und horchte auf den Fluss, und manchmal dachte er dann an die Morgendämmerung auf dem Reihersee, wenn die Wolken sich in weißen Falten über den Bergen stauten und sein rotes Fischerboot still durch den Nebel glitt.
Es war nicht so, dass Pao Yi Heimweh hatte; er verspürte keine große Sehnsucht, in sein früheres Leben zurückzukehren, aber seine Erinnerungen an dieses Leben – mit Paak Mei und Paak Shui – waren so außerordentlich lebhaft und so voll buntester Farben, und es waren diese Farben, die ihm manchmal hier in seinem gegenwärtigen Leben fehlten. Und so saß Pao Yi häufig da und bewunderte im Geiste diese Farben: die scharlachroten Drachen, die Paak Shui auf dem langen Berg fliegen ließ, die orangefarbenen Lehmziegel seines Hauses, die grünen Fenster, die grellbunten Bilder von Chen Lin und Chen Fen Ming auf dem kleinen Ahnenaltar neben dem Kochfeuer, die gelben und grünen Glasperlen auf Paak Meis winzigen Pantoffeln und das schimmernde Silber der Fische im See. Nichts in seinen inneren Bildern bewegte sich viel oder veränderte sein Aussehen. Der scharlachfarbene Drachen hing immer nahezu regungslos in der Luft, die Fische schwammen nur langsam direkt unter der Wasseroberfläche, Paak Mei stand still und abwartend in ihren perlenbestickten Pantoffeln da. Und trotzdem wirkte alles so lebendig, und seit einiger Zeit ahnte Pao Yi, dass er vielleicht seine Berufung als Gemüseanbauer gefunden hatte. In seinem Gemüsegarten erfand er die Farben seiner Vergangenheit neu.
Nach seiner Begegnung mit Joseph Blackstone und Will Sefton hatte Pao Yi nachts einen furchtbaren Traum. Er war in sein Haus am Reihersee zurückgekehrt und hatte nichts – kein Gold, keine Dollars, keine Geschenke, nichts . Auf den Knien hatte er Paak Mei seine Hände hingestreckt, und sie waren leer, und Paak Mei hatte zu weinen begonnen, und dann war Paak Meis Familie in dem kleinen Zimmer erschienen, Mutter, Vater, Brüder und Schwestern, Cousins und Cousinen, und sie hatten ihn umringt und voller Mitleid angesehen.
Er hatte sein Gesicht verloren.
Er glaubte, er würde für den Rest seines Lebens so knien müssen.
Gesang setzte ein, angestimmt von den Brüdern, sie sangen dunkel und wohlklingend, und das Lied handelte von ihm, Chen Pao Yi:
»Dessen gewählter Name Bruder der Rechtschaffenheit lautet
Dessen Taten jedoch ohne Bedeutung sind
Geringer als die Taten eines Frosches
Geringer als die Taten einer Kakerlake einer Spinne einer
Schnecke
Ja geringer als die Taten einer Schnecke …«
Als Pao Yi aus diesem Albtraum erwachte und feststellte, dass er allein auf seiner Flachsmatte in seiner Hütte oberhalb vonKokatahi lag, war er so erleichtert, dass er sofort aufstand. Bald würde es hell werden, und so ging er nach draußen in seinen Garten und schaute hinauf zum Mond, der noch am
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