Die Farbe der Träume
Morgenhimmel zu sehen war. Er liebte den Mond. Einige Male schon hatte er versucht, ein Gedicht auf ihn zu machen, und die Worte des Gedichts hatten ihn anfangs durchaus befriedigt, sie hatten sogar, in ihrer leicht sentimentalen Färbung, etwas von der Schönheit des Mondes gehabt. Aber als Pao Yi daranging, seine Worte auf Papier festzuhalten, erkannte er, wie unbeholfen seine kalligrafischen Zeichen wirkten, und er hatte das Gefühl, die schlecht getuschten Schriftzeichen hätten das Gedicht mit ihrer Schlechtigkeit angesteckt. In einem anderen Leben, sagte er sich, in meinem nächsten Leben werde ich bei einem Kalligrafiemeister studieren und dann für alle Bewohner am Reihersee Briefe komponieren und die Namen ihrer Ahnen in die Grabsteine an der Südseite des langen Bergs eingravieren. Und ich werde Gedichte schreiben.
Pao Yi kochte sich seinen nach tarata duftenden Tee, und während er ihn trank, dachte er an das, was er am Vortag gesehen hatte: an den Mann, der beschämt im Dreck lag; an den halb nackten Jungen. Er fragte sich, wie sie wohl in diese Situation geraten sein mochten und ob man sie hätte vorhersehen und verhindern können. Pao Yis Vater Chen Lin hatte häufig gesagt: Wir können Beschämung vermeiden, wenn wir nur wollen, denn sie überfällt uns nicht hinterrücks, sie schickt ihren Warnruf voraus, und wir können diesen Warnruf so deutlich hören, wie wir das Nahen des Nordwinds hören.
Der Mann, der im Dreck lag, hatte das Nahen des Nordwinds nicht gehört.
Aber Pao Yi grübelte nicht allzu lange über den Mann und den Jungen nach, ebenso wenig, wie er über das nachdachte, was er auf den Goldfeldern sah und hörte, oder über die Namen, mit denen die Menschen ihn beschimpften. Wenig Gedanken machte er sich auch über die Tatsache, dass Chinesen,wo immer sie auftauchten, von oben herab behandelt, verspottet, sogar bedroht wurden, und dass man ihren einst so mächtigen Kaiser schmähte oder vergessen hatte. Diese Dinge mussten ertragen werden. Sie waren Teil seines Alltags. Sie waren Teil der Zeit. Wenn Pao Yi zu lange über sie nachdachte, entstand in seinem Kopf ein unerträglicher Lärm, so als hätte man ihn in den Maschinenraum eines Raddampfers gesperrt, wo die Luft schwarz war.
Wenn er hier auf seinem Hügel seinen Morgentee trank, während die Sonne durch den Nebel brach, konnte er all das vergessen oder es verstecken, so wie sein Sohn Paak Shui seine Steinesammlung in einer hohlen Kiefer versteckt und mit Moos zugedeckt hatte. Doch er wusste, dass sie immer da waren, diese unerträglichen Dinge, die dennoch ertragen werden mussten. Sie waren ihm näher, als ihm lieb war:
Ich weiß, wo Paak Shui seine Steine aufbewahrt.
Paak Shui weiß nicht, dass ich weiß, wo er seine Steine aufbewahrt.
Aber ich weiß es.
Pao Yi aß eine Schale Kūmara-Püree und machte sich an die Arbeit.
Er pflanzte kleine Zwiebelsetzlinge ein, die er aus Samen gezogen hatte. Er wusste, was diese Babyzwiebeln gerne mochten, sie mochten eine hübsche, weiche Kuhle, die er in genau der richtigen Größe mit dem Daumen in die Erde drückte. Und so wanderte Pao Yi sehr langsam an dem Beet entlang, folgte der Schnur, die er zwischen zwei Stöcken aufgespannt hatte, bereitete seinen Zwiebeln ein Zuhause und setzte sie hinein. Er würde sie alle nacheinander einpflanzen, dann zum Anfang der Reihe zurückgehen und jede mit Erde bedecken.
Er hatte sechzehn dieser Babybetten hergerichtet, als er bei dem siebzehnten unter seinem Daumen den Widerstand eines Kieselsteins spürte. Pao Yi sah es gern, wenn alle Zwiebeln in perfektem Abstand zueinander standen, weshalb er, anstattein bisschen weiter weg eine neue Kuhle einzudrücken, den Kiesel herauspulte, der da im Weg war. Der Stein war ziemlich groß – viel größer als sein Daumennagel –, und Pao Yi wog ihn einen Moment in der Hand, ehe er ihn wegwarf. Aber als er ihn warf, sah er, wie der Kiesel, von einem Sonnenstrahl getroffen, auf unerwartete Weise aufleuchtete, und deshalb blickte er zu der Stelle, wo er hingefallen war, und sein Blick verweilte dort. Pao Yi rührte sich nicht. Er blieb, wo er war, in der Hocke vor seinem Zwiebelbeet, betrachtete den weggeworfenen Kieselstein und formulierte im Geiste, was er – falls überhaupt – dazu sagen wollte.
Chen Pao Yi hatte ein großes Talent für Schweigsamkeit und Stille erworben. Gelernt hatte er das bei seinem Vater Chen Lin. Es war eine Stille des Geistes und des Körpers, eine Stille, die Wörter
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