Die Farbe der Träume
sich. Der Fluss hatte sie genommen. Harriet Blackstone war tot, und deshalb gehörte alles, was er hier vorfand, von Rechts wegen ihm. Er warf den Schinkenbeutel weg. Er leerte die Säckchen mit Mehl und Zucker. Wenn er Harriet besser gekannt hätte, dachte er, dann wüsste er vielleicht auch, wo sie ihr Gold versteckt hatte. Aber er wollte sie nicht besser kennen. Nach dem Tod von Rebecca hatte er überhaupt niemanden mehr genau kennen wollen.
Wie ein räuberischer Wolf kroch er auf allen vieren über den kleinen Lagerplatz. Er bewegte sich in Kreisen voran und untersuchte den Boden. Er hob jeden vom Feuer geschwärzten Stein hoch. Er grub mit seinen Händen unter den Steinen.
Er fand kein Gold.
Joseph setzte sich auf die rote Decke und legte sie sich um die Schultern. Er sinnierte über die Frage, ob der Tod, wenn ein Mann ihn nur leidenschaftlich genug ersehnte, sich wohl gehorsam einstellen würde. Dann griff er gedankenlos nach einem flachen Stein und hörte, wie er über etwas Metallisches schabte. Er nahm den Stein hoch und fand darunter, in die Erde eingegraben, einen Blechbecher voller Gold.
Joseph ließ die scharlachrote Decke von den Schultern gleiten, breitete sie aus, schüttete das Häufchen goldener Körner in die Mitte, sammelte die Körner einzeln auf und ließ sie wieder fallen, und dann bettete er seine Wange in das Häufchen. Er sah wieder eine Zukunft für sich. Er sah die Morgenröte über dem Buchenwald in Parton Magna aufsteigen. Er sah, dass er am Leben bleiben würde.
Er wollte keine Zeit verlieren.
Er stopfte jedes letzte Körnchen, jedes Stäubchen Gold in den leeren Zuckerbeutel und rollte ihn dann in die Decke. Er steckte die Pistole in seinen Hosenbund. Er schöpfte sich etwas Zucker in die Hand und aß ihn.
Er blickte zum Himmel und sah, dass der Tag vorangeschritten war und die Dunkelheit ihn überraschen würde, wenn er sich nicht bald auf den Rückweg machte. Also stand er auf, wusch sich die Hände im Fluss, drehte sich um und zog wieder los.
Er lief so rasch, wie er konnte. Er merkte, dass sein Gang jetzt viel leichter war. Irgendwo über sich hörte er einen Glockenvogel singen.
Als er wieder auf der Höhe von Chens Garten war, blieb er stehen, weil er zum ersten Mal seit langem Hunger hatte. Er überlegte, ob er wohl eine sichere Stelle zum Durchqueren des Flusses fand. Er malte sich den frischen Eisengeschmack von Spinatblättern aus. Doch er sah, dass das Wasser immer noch tief und die Strömung stark war. Hier konnte er nicht vor Ende des Winters hinüberkommen.
Also lief Joseph weiter. Er trug das Gold an die Brust gedrückt, so wie er vielleicht ein Kind getragen hätte. Als er die erste Biegung des Flusses erreichte, ließ ihn ein Geräusch aufhorchen. Er blieb stehen und blickte zurück. Erst dachte er, jemand riefe etwas, aber dann war doch alles nur still, so still und stumm wie immer, und Joseph vermutete, dass er sich geirrt hatte: Das Geräusch musste von einem neugierigen Glockenvogel stammen, der ihm gefolgt war.
Z EHN M ETER L AND
I
In der Nacht zum vierundzwanzigsten Mai rollte der Wurm in Edwin Orchards Gedärmen sich so fest zusammen, dass der Junge fühlen konnte, wie seine Eingeweide sich krümmten und verdrehten, und dann erschien unter der Haut seines Bauchs ein harter, zuckender Kegel. Er begann zu schreien.
Dorothy und Toby kamen in Edwins Zimmer geeilt. Sie hielten ihn, redeten mit ihm, zündeten Lampen an, und Dorothy sang alte Wiegenlieder für ihn, die er auswendig kannte. Janet schleppte sich die Treppe hoch und blieb, das Taschentuch vor den Mund gepresst, in der Tür stehen. Toby legte Kohlen nach, ging eine Flasche Rum holen und versuchte, Edwin ein paar Tropfen einzuflößen und Dorothy bei dem Lied zu begleiten, denn er sang stets falsch und hoffte, das könne seinen Sohn, so wie sonst immer, zum Lachen bringen.
Nähst du mir ein Frotteekleid.
Petersilie, Kletterwein.
Ohne Nadel, nicht zu weit,
und ich werd dein Liebchen sein.
Wäschst du es im Teich danach.
Petersilie, Kletterwein.
Den kein Regen füllt noch Bach,
und ich werd dein Liebchen sein …
Mitten im Lied hörte Edwin auf zu schreien. Der Wurm hatte sich plötzlich wieder auseinandergerollt, und der Schmerz ließ nach. Dorothy und Toby sahen, dass der Kegel verschwunden war und der Wurm jetzt in U-Form direkt über Edwins Lenden lag. Und sie beobachteten den Wurm, so wie ein Hund eineRatte beobachten mochte; wollten sehen, was er als Nächstes tun würde, aber er
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