Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
Edwin. »Sie war sehr lange auf einem Felsvorsprung bei einem Wasserfall. Ich habe sie auf dem Felsen gesehen, und sie …«
    »Was für ein Felsvorsprung , Edwin. Wovon redest du?«
    »Das hat er sich ausgedacht«, sagte Toby scharf.
    Edwin fing an, im Bett zu strampeln. Er versuchte, sich aufzurichten.
    »Das habe ich mir nicht ausgedacht!«, schrie er. »Ich habe diesen Felsen gesehen! Und Pare wollte, dass ich komme und ihr helfe, aber ich konnte nicht. Ich habe Harriet gefragt, ob sie sie sucht, aber Harriet wollte nicht über den Hurunui gehen, weil sie zu viel Angst hatte.«
    »Harriet? Hast du Harriet davon erzählt?«
    »Ja. Und sie hat nicht gesagt, dass ich dumm bin. Sie hat mir geglaubt!«
    »Pscht«, sagte Dorothy. »Wir glauben dir doch auch, nicht wahr, Toby?«
    »Nein, das tun wir nicht !«, sagte Toby und drückte Edwins Hand. »Du hast geträumt, Edwin. Jetzt hör mir mal gut zu. Du hast schreckliche Albträume gehabt, und die haben dich krank gemacht. Deshalb musst du sie vergessen, dann kommt dein Wurm nämlich raus, und du bist wieder gesund.«
    »Nein!«, sagte Edwin und zog seine Hand weg. »Pare war echt. Ich habe sie gerochen. Ich habe sie berührt. Sie hat mir eine Kiwifeder geschenkt. Ich kann euch den Platz im Gras zeigen, wo wir immer gesessen haben. Meine Raupe ist an ihrem Arm hochgekrabbelt. Sie hat auch Mollie und Baby gesehen … Sie war echt !«
    Jetzt weinte Edwin, und Janet, die auf der hölzernen Kleidertruhe hockte, musste ebenfalls weinen. So leise wie möglich, denn sie wollte nicht stören.
    »Papa hat Recht, Edwin«, sagte Dorothy seufzend und wischte Edwins Tränen mit der Hand weg. »Du musst das jetzt vergessen. Du musst jetzt alles tun, um gesund zu werden.«
    »Ich werde nicht gesund!«, schluchzte Edwin. »Ihr versteht mich nicht! Pare ist gestorben. Sie ist tot . Ich weiß nicht, wann es passiert ist, weil sie dauernd gerufen hat …«
    »Herrgott noch mal!«, sagte Toby jetzt ärgerlich. »Was um Himmels willen soll das alles? Ich glaube wirklich, mir reicht es jetzt. Versuch zu schlafen, Edwin. Vergiss diesen Unsinn. Die Schmerzen sind weg. Also schlaf.«
    »Ich werde nicht schlafen!«, schrie Edwin. »Ich werde sterben!«
    »Nein«, sagte Toby. »Du wirst nicht sterben. Das lassen wir nicht zu. Der Wurm ist mit der Medizin, die du nimmst, schon tiefer gerutscht. Noch ein oder zwei Tage, und er ist raus. Und dann wirst du gesund.«
    Mit seinen bleichen Fäusten begann Edwin, seinen Vater zu traktieren.
    »Hör auf, Spatz«, sagte Dorothy mit fester Stimme. »Leg dich hin. Wie wäre es, wenn wir das Lied noch mal singen?«
    »Welches Lied? Welches blöde Lied? Über unmögliche Dinge? Über ›Frottee‹? Kein Mensch weiß, was das ist! Frottee ist nicht echt. Aber Pare ist echt, und ich weiß, wo sie ist, und ich werde da hingehen, ich werde sie sehen!«
    »Pscht, Edwin, Edwin …«
    »Weil der Wurm nämlich tot ist! Er ist in dieses Kegelding gekrochen und gestorben. Und das ist das Ende von meinem Leben!«
    Die einzigen Geräusche im Zimmer waren jetzt Edwins erschöpfte Atemzüge und Janets Weinen. Toby stand langsam auf.
    »Bleib bei ihm, Dorothy«, sagte er. »Ich reite nach Rangiora. Ich hole Dr. Pettifer.«
II
    Toby Orchard hatte sich angekleidet und das Pferd gesattelt. Als er losritt, wurde es gerade Tag, und mit der Morgendämmerung kam der Schnee.
    Toby kannte sich mit dem Wetter aus. Es war immerhin erst Mai, und der Schnee würde nicht lange liegen bleiben. Und so zweifelte er nicht, dass er durchkommen würde, aber müde und besorgt, wie er war, irritierten ihn die tanzenden Flocken, die ihm in die Augen stachen und die Sicht behinderten. Er verfluchte die Ankunft des Winters. Er verfluchte die endlose Weite des Landes – genau das also, was ihn normalerweise begeisterte und daran erinnerte, wie klug und richtig es gewesen war, dass er sein altes, unerträgliches Leben in London aufgegeben hatte.
    Er war erst wenige Kilometer geritten und immer noch aufdem Gelände der Orchard-Farm, als ihm, nur undeutlich im lästigen Schnee zu erkennen, eine Gestalt auffiel – anscheinend ein Mann, der neben einem Tier herging. Aus der Nähe sah er dann, dass es sich tatsächlich um einen älteren Mann handelte. Er trug einen zerschlissenen Mantel und einen verbeulten Filzhut und führte ein Schaf an einem langen Seil. Als Toby ihn eingeholt hatte, versuchte der Mann, ihm zu entkommen, indem er sich plötzlich nach Norden wandte, durchs lange Tussockgras stolperte

Weitere Kostenlose Bücher