Die Farbe der Träume
habe ich Toby die Schere in die Hand gedrückt und … ach, du liebe Güte, Ihre Hände sind ja wirklich eiskalt. Kommen Sie an den Kamin. Und Edwin, mein Schatz, du bringst Mrs Blackstones Pferd in den Stall und gibst ihm etwas Hafer.«
»Es ist ein Esel, Mama«, sagte Edwin.
»Oh, ein Esel. Nun, dann nimmst du eben den Esel, mein Herz. Da sind Sie wohl eine lange Strecke auf dem Esel geritten, Mrs Blackstone?«
»Nein. Ich habe einen kleinen Wagen …«
»Haben Sie den Ashley überquert?«
»Ja.«
»Und kein Strudel hat Sie in die Tiefe gerissen? Die behaupten ja, ihre Fähre sei sicher, aber natürlich hat es Unfälle mitToten gegeben. Aber kommen Sie doch ans Feuer, ich werde unser Dienstmädchen Janet bitten, dass sie uns etwas Kognak bringt.«
Harriet schaute Dorothy Orchard an, deren Haar tatsächlich sehr kurz war und im Nacken widerspenstig abstand. Ihr Gesicht war breit und kantig und etwas flach, und ihr Kiefer sah aus wie ein direkt in den Wind gestelltes Segel, aber ihre Augen waren groß und sehr schön. Als Harriet sich für ihren unangekündigten Besuch entschuldigen wollte, sagte Dorothy: »Sie kommen nicht unangekündigt. Wir hörten von unserem Farmhelfer, der Ihnen das Hammelfleisch verkauft, dass Sie in der Nähe des Okuku ein Haus gebaut haben, und zwar ziemlich hoch oben, und da habe ich, als der Schnee kam, zu Toby gesagt: ›Ich glaube, wir werden die Blackstones bald nach der Schneeschmelze hier sehen‹. Und damit hatte ich ja Recht, nur dass Sie allein gekommen sind.«
Dann ging sie zur Tür, rief nach dem Mädchen: »Janet! Janet!«, drehte sich zu Harriet um und flüsterte: »Sie heißt eigentlich Jane, aber so nennen wir sie nie. Das ist sehr seltsam von uns.«
Harriet lächelte Dorothy an. Dann wagte sie, sich in dem stattlichen Raum umzuschauen. Seine Ausmaße und seine Eleganz erinnerten sie an Häuser, in denen sie als Gouvernante gearbeitet hatte – Orte, die sie für immer hinter sich zu lassen geglaubt hatte, als sie sich nach Neuseeland einschiffte. Sie hätte gern gewusst, wie lange die Orchards wohl gebraucht hatten, um dieses Zimmer einzurichten – mit seinen schweren Vorhängen vor den Fenstern, dem edlen vergoldeten Spiegel über dem Kamin und den sorgfältig zusammengefalteten Zeitungen im Regal.
»Hör zu«, sagte Dorothy zu Janet, die leise hereingekommen war, »bring uns Kognak und drei Gläser und etwas Milch für Edwin, und dann beziehst du das Bett für Mrs Blackstone, und … was gibt es zum Abendessen?«
»Taubenpastete«, sagte Janet.
»Sehr gut. Sorg dafür, dass es für uns alle reicht.« Und als Janet fortgehuscht war, wandte sie sich wieder an Harriet. »Mühsam zu schießen, die Tauben«, sagte sie. »Fliegen wie Kreisel. Aber Toby könnte eine Fliege treffen. Setzen Sie sich doch, Mrs Blackstone. Legen Sie die Füße auf diesen kleinen Schemel und wärmen Sie sie.«
Die Pastete war groß und unförmig. Ein ganzer Taubenschwarm schien sich darin in einer roten Soße zusammenzudrängen.
Harriet, die vor Hunger schon ganz benommen war, sah zu, wie Toby Orchard die Pastete mit seinen gewaltigen Händen erstaunlich behutsam zerschnitt, als wäre es sein Amt auf Erden, der gute Sachwalter allen Lebens zu sein, ob es nun herumflog, an einem Flussufer wuchs oder tot in einer Pastete lag. Sie beobachtete, wie er das erste Tortenstück herausschnitt, den Mürbeteigdeckel oben auf der Pastete ablegte und mit einer schweren Kelle das würzige Taubenragout auf einen Teller schaufelte, den Teigdeckel auf den randvollen Teller platzierte und ihr den Teller reichte. Verglichen mit Joseph war Toby Orchard ein Riese. Haupthaar und Bart waren flachsfarben und wild, und sein Gesicht war rot, als hätte er gerade ein Wettrennen hinter sich oder mit einem Tiger gekämpft. Seine Kleidung knarzte, wenn er sich bewegte.
Nachdem er alle mit einer Portion Taubenpastete versorgt und ein Gebet gemurmelt hatte, machte er sich triumphierend über sein Essen her. Er brach Brot in kleine Stücke, tränkte sie mit Soße und verschlang alles – Taubenfleisch, Mürbeteig, Kartoffeln, Soße und Brot – so hastig, dass das Rosenmuster auf dem Teller, kaum dass es bedeckt gewesen war, schon wieder, blitzblank und glänzend, zum Vorschein kam. Und Harriet begriff, dass Toby in seiner ersten Essenseuphorie von niemandem angesprochen werden wollte. Dorothy lächelte ihm zwischen ihren schmalen Bissen wohlwollend zu. Edwin sagte seiner Mutter leise ein Gedicht auf, das ihm gerade
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