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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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und jetzt seinen Irrtum erkannt hatte. Und er verriet nicht, dass er neuerdings sehr viel betete – zu einem Gott, mit dem er sonst so gut wie nie redete –, dass er betete, das bislang entdeckte Gold möge weit weg von seinem Bach gefunden worden sein, und seine Fundstelle möge auch in Zukunft sein Geheimnis (was sie jetzt war) bleiben. Alles, was er dazu sagte, war: »Hier ist etwas passiert.«
    Er schlug vor, dass Lilian in der warmen, relativ behaglichen Teestube sitzen bleiben sollte, während er auf die Suche nach Informationen und einer Unterkunft für die Nacht ging.
    »Es wird keine Unterkünfte geben«, verkündete Lilian düster.
    »Dann kaufen wir eben ein Zelt«, sagte Joseph und hoffte auf ein kleines Lächeln seiner Mutter. Doch es war, als hätte Lilian Blackstone beschlossen, nie wieder zu lächeln, als hätte sie diesen speziellen Muskel in ihrem Gesicht aus dem Dienst entlassen und würde ihn, solange sie auf Erden weilte, nicht mehr in Anspruch nehmen wollen.
    »Wenn sie doch …«, hob Lilian an. Und dann stockte sie.
    »Wenn wer was?«
    »Wenn sie doch damals nur nicht so getan hätte, als wäre sie meine Freundin. Zu behaupten, wir hätten so vieles gemein … Sie besaß sogar die Frechheit, auf die Ähnlichkeit unserer Vornamen anzuspielen …«
    Joseph nickte. Dann sagte er: »Menschen ändern sich, wenn die Zeiten sich ändern, das ist alles.«
    »Das mag ja sein«, bemerkte Lilian, »aber dein ›alles‹ ist eine ganze Menge.«
    Joseph stand auf. Draußen begann es schon dunkel zu werden, und er wusste, dass noch viel zu erledigen war. Er hatte nicht nur eine Bleibe für seine Mutter zu finden, sondern musste auch herausbekommen, wo all die Menschen hin wollten und was dieser Goldrausch bedeutete. Und er wusste, dass er in der plötzlich überfüllten Stadt nicht mit der Zimmersuche beginnen konnte, ehe er nicht begriffen hatte, was hier eigentlich vor sich ging. Zu allererst musste er sich also zum Markt aufmachen. Dabei regte sich in ihm schon die leise Hoffnung, dassdie Männer, die er gesehen hatte, hier waren, um sich in Lyttelton nach Nelson einzuschiffen oder sogar nach Dunedin im Süden – jedenfalls weit weg vom Okuku-Tal.
    Sollten sie nur fahren.
    Er hatte nicht die Absicht, ihnen zu folgen oder sich in einen Massenrausch zu stürzen. Er hatte sein eigenes Gold auf der Farm.
    Er lief durch die Dämmerung. Schon aus der Ferne konnte er einen Fiedelspieler und die unbekümmerten kleinen Juchzer tanzender Menschen hören. Und kaum war er in die Diamond Street eingebogen, war er auch schon Teil der wimmelnden Menschenmenge auf dem Markt. Es waren fast nur Männer, die Lederhüte und Jacken aus Moleskin-Baumwolle trugen und ihr primitives Werkzeug auf dem Rücken schleppten oder in Karren vor sich her schoben: Pickhämmer, Schaufeln, Waschpfannen, Kochgeschirr, Stiefel und groben Zeltstoff. Geld wechselte in raschem Tempo den Besitzer für den Kauf von Tee, Mehl, Reis, Kerzen, Messern, Segeltuch, Branntwein und all den vielen anderen Dingen, die die Männer in die unbekannte Wildnis mitnehmen wollten, die sie da draußen erwartete. Und dieser Handel ging mit einer Hektik und Leidenschaft vor sich – hastig wurden die hin und her fliegenden Münzen gezählt –, als drohe all dem mit der kommenden Nacht das Ende, als gäbe es kein Morgen mehr und nur noch hier und heute die allerletzte Möglichkeit zum Kauf.
    Joseph blieb vor einem Verkaufstisch stehen, der sich als »Survival-Stand« anpries. Er wurde von drängelnden Menschen hin und her geschoben, während er dem Mann in der Sackleinenschürze zusah, der einen lebendigen Aal aus einem Eimer holte, auf einen Holzblock legte und ihm den Kopf abhackte. Der Kopf lag still, aber der Körper bewegte sich noch und fiel fast vom Block hinunter. »Wehe, mein Junge!«, sagte der Standbesitzer und spuckte auf den Boden. Er schnappte sich den Aal, und mit einer Geschicklichkeit, die die kleine Menge in Erstaunen versetzte, schnitt er ihn der Länge nach durch, entfernte Wirbelsäule und Eingeweide und warf beides weg. Er legte die zwei rosigen, etwas blutigen Hälften des Aals auf den Block und tat das so zärtlich und sorgsam wie ein Juwelier, der eine Rubinhalskette vor einem reichen Kunden ausbreitet.
    »So«, sagte er. »Und nun passt auf. Denn jetzt kommt die Konservierung . Die hält das Fleisch frisch. Und ohne die werdet ihr sterben.«
    Die Menschen rückten näher heran. Joseph konnte das Aalfleisch riechen und in der ausgebeulten

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