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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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schwächer, als habe seine Frau sich erkältet und könne nur noch flüstern. Allein in seinen Träumen hörte er sie ganz deutlich, hörte ihr helles Lachen und konnte sich an das Geräusch ihres Gangs erinnern, eines etwas geisterhaften Schlurfens auf den Hacken und dem großen Zeh ihrer gebundenen Füße in Schuhen aus Stoff.
    »Gehen ist Schmerz«, sagte sie manchmal, aber mit neutraler Stimme, ohne sich zu beklagen, als machte sie eine Bemerkung über den Regen oder die Sonne oder die grauen Haare in Pao Yis Zopf, und es war eine seiner selbst auferlegten Pflichten, die Binden von Paak Meis Füßen zu lösen, ihre Füße in seine Hände zu nehmen und die Schmerzen mit Lavendelöl zu lindern. Und als er wusste, dass er nach Neuseeland gehen würde, um die Familie von der Armut zu erlösen, versuchte er, Paak Shui zu zeigen, wie diese Füße zu pflegen waren, doch Paak Shui sagte, das werde er nicht tun, er liebe die kleinen Füße seiner Mutter, wenn sie eingebunden seien und in ihren Schuhen steckten. Aber wenn er sie ungebunden sehen müsste, mit den gebrochenen und, wie eine Vogelkralle, unter die Sohlen geklappten Zehen, würde ihm übel werden.
     Pao Yi erinnerte Paak Shui daran, dass Ehrfurcht vor den Eltern die oberste Pflicht im Leben sei. Sie hätten ihm das Leben geschenkt, und ohne sie wäre er nichts als ein Stäubchen auf einem fernen, baumlosen Hügel. Er sagte: »Dieser Schmerz geht gern, wohin er will, und tut gern, was er will. Doch er fürchtet sich vor Lavendel. Das Lavendöl ist deine Waffe, aber Waffen nützen gar nichts, wenn sie auf einem Bord stehen oder an der Wand hängen. Du musst die Waffe in die Hand nehmen und deiner Mutter deine Ehrerbietung zeigen, indem du den Schmerz verjagst.«
    Paak Shui sträubte sich und erklärte, der Schmerz sei ihm zu eigensinnig. Er war acht Jahre alt. Er sagte, die Übelkeit, die ihn befalle, wenn er auf Paak Meis Füße schaue, zeige ihm, dass der Schmerz böswillig und grausam sei, wie der Schwanz eines Drachens. Doch Pao Yi legte den Tiegel mit Lavendelöl in seine Hände und erklärte ihm, dass Bosheit und Grausamkeit keinen Zutritt zum Haus am Reihersee erhalten dürften. Er sagte: »Im Namen deiner Großeltern, die sich für andere aufopferten, musst du sie davonjagen.«
    Doch nun fragte Chen Pao Yi sich, während er seinen Gemüsegarten umgrub und wässerte, manches Mal, ob sein Sohn überhaupt erfüllen konnte, was er von ihm verlangt hatte. Er war ein Kind. Am liebsten bastelte er Köder aus zerbrochenen Muschelschalen und ließ seinen Drachen am weiten Himmel über dem langen Berg im Distrikt Panyu fliegen. Er liebte Dinge, die sich in Wellen oder Kreisen bewegten, nicht Dinge, die schon tot aussahen, so wie die Füße seiner Mutter für ihn totaussahen. Und Pao Yi gelangte immer mehr zu der Überzeugung, dass der Schmerz Paak Meis Bett womöglich wie ein brüllender Tiger umkreiste und ihre Stimme aus diesem Grund vor lauter Schwäche kaum noch zu hören war.
    Doch er konnte nicht nach China zurückkehren. Noch nicht. Nicht, ehe er ein reicher Mann war.
    Käme er ohne den versprochenen Reichtum zurück, so verlöre er das Gesicht in seinem Dorf, aber auch vor Paak Mei und ihren Eltern. Er hatte in Otago mit seiner Gärtnerei ein wenig Geld verdient, doch kaum begann sein Unternehmen zu florieren, war der Goldrausch auch schon zu Ende, und die Schürfer zogen ab, und Pao Yi blieb alleine zurück, in einer ruinierten Landschaft mit den verlassenen Schächten und Bewässerungsrinnen und den alten, einst mit Pferden betriebenen Ziehbrunnen, deren Räder sich jetzt von allein im Wind drehten.
    Als dann der neue Goldrausch an der Westküste begann, war er dorthin gezogen, in der Absicht, kurz hinter Hokitika ein Stück Land ganz nah bei den Grabungen zu pachten. Doch der Grundbuchkommissar hatte ihm erklärt, alles Land in dieser Gegend gelte als goldhaltig, weshalb nichts für den Gemüseanbau vergeben werden könne. »Gehen Sie weiter ins Landesinnere«, hatte der Kommissar Pao Yi geraten. »Gehen Sie zum Kaniere-See, und suchen Sie sich dort ein Stück Land, und wir schicken Ihnen den Aufseher vorbei, der Ihnen sagt, ob es bearbeitet werden darf oder nicht. Die Provinz Canterbury begrüßt die Gründung von Gärtnereien, allerdings nicht auf Kosten von Gold. Und nun, husch-husch, Johnny, denn wir haben sehr viel zu tun, und vergeuden Sie nicht weiter meine Zeit mit Gerede vom Küstenland.«
    Also wanderte Pao Yi den Hokitika-Fluss hinauf, bis

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