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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Chinese vollkommen still stehen und wartete, während die Mittagssonne ihn beschien und der Fluss hell und klar an ihm vorbeifloss. Und als niemand aus dem Zelt kam, schulterte er nach einer Weile seinen Stock mit den schweren Körben und ging weiter.
    »Er hat nichts genommen«, meinte Joseph zu Will.
    »Nein«, sagte Will. »Der nicht. Aber die tun das. Und man weiß nie, wie sie sind. Das hat mich am Arrow ganz verrückt gemacht. Man kann einfach nicht ihre Gedanken lesen.«
II
    Er hieß Chen Pao Yi.
    Er war ein Jahr in Otago gewesen und jetzt hierhergekommen, nicht um nach Gold zu graben, sondern um eine kleine Gärtnerei aufzuziehen und das, was er anbaute, an die Westküstenschürfer zu verkaufen. Die Schürfer nannten ihn nie bei seinem richtigen Namen; sie nannten ihn »Jen« (wobei sie absichtlich den Namen Chen missverstanden) oder »Jenny« oder manchmal auch »Skorbut-Jenny«, weil einige behaupteten, das Gemüse, das er anbaute, halte die Krankheit fern. Chen Pao Yi ertrug es, ohne dass sich auch nur ein Muskel in seinem Gesicht bewegte, und verbeugte sich vor den Männern, wenn sie ihm ihr Geld oder ein paar Goldkörnchen im Austausch gegen seine Produkte reichten.
    Er war vierzig Jahre alt und hatte schon graue Strähnen inseinen Haaren, die er, unter seiner Kaninchenfellmütze, zu einem traditionellen Zopf geflochten trug, und er träumte von seinem Heim, einem kleinen Haus an den Ufern eines Sees, der Reihersee hieß und im Distrikt Panyu im Südwesten Chinas lag, und er träumte von seiner Frau, die Paak Mei, und von seinem Sohn, der Paak Shui hieß.
    Paak Shui bedeutete »weißes Wasser«, und dieser Junge trug seinen Namen zu Ehren von Pao Yis Eltern, Chen Lin und Chen Fen Ming, die bei dem Versuch gestorben waren, ihre Nachbarn aus einem Unwetter auf dem Reihersee zu retten. Dabei war ihr Boot über ein Wehr hinausgeschossen und auf ein Wasserrad gestürzt. Ihre Körper waren in den Tagen der Flut in lauter Einzelteilen auf dem See herumgeschwommen und bis zum achten Tag nicht ans Ufer getrieben, und dann hatte Pao Yi sie einsammeln müssen – ein Bein, eine Hand, einen abgetrennten Fuß, ihre kostbaren verschrammten und eingeschlagenen Köpfe –, hatte alles auf dem Schilf ausgebreitet und wieder zusammenzusetzen versucht.
    Doch es war unmöglich gewesen, sämtliche Teile zu finden, denn manch ein Finger war von Fischen gefressen worden, und Haare hatten sich in Gänsedisteln verhakt, und Augen lagen zwischen dem bernsteinfarbenen Kies, weshalb Pao Yi nur Teile seiner Eltern beerdigte und nicht die ganzen Personen, und während all der Zeit, die er noch in China lebte, schienen sie ihn zu rufen und zu bitten, er möge die fehlenden Teile von ihnen finden und sie in das Grab legen, damit sie wieder ganz sein würden, mit Ohren, die den Wind in den Tannen hörten, und Nasen, die die Pflaumenblüte im Winter rochen, und Füßen, die sie zu Pao Yi brachten, damit sie sehen konnten, wie ihr Enkel, Paak Shui, seine ersten Schritte tat.
    Sie waren arme Leute. Er und sein Vater waren Fischer auf dem See.
    Und als Pao Yi sah, wie andere Männer zu dem Goldrausch nach Neuseeland aufbrachen, dachte er, er könnte versuchen,die Armut zu besiegen, weil Armut und Hunger ihn fast so sehr erschöpften wie die rufenden Stimmen seiner Eltern. Er erkannte, dass die Last der Erschöpfung, wenn er in seinem Haus am Reihersee blieb, schon bald so schwer auf seinen Schultern liegen würde, dass er zu nichts mehr fähig wäre, außer auf seiner Strohmatte die Opiumpfeife zu rauchen und auf einen ewigen Schlaf zu warten.
    Und dann merkte er, dass die Stimmen von Chen Lin und Chen Fen Ming während seiner Reise gen Süden allmählich schwächer wurden. Als wäre der Pazifik so gewaltig, dass selbst ihre starken Geister ihn nicht zu überqueren vermochten. Und er fragte sich, ob sie jetzt stattdessen seinen Sohn, Paak Shui, riefen oder sogar seine Frau, Paak Mei, die stets eine gehorsame Schwiegertochter gewesen war und sich um Chen Fen Ming gekümmert hatte, als sie am schwarzen Fieber erkrankte, und in ihrem eigenen kleinen Boot über den See gepaddelt war, um Wasserkastanien für Chen Lins Lieblingsgerichte zu sammeln.
    Doch die Antwort konnte Pao Yi nicht wissen, denn von Paak Mei kam keine Nachricht, da sie nicht schreiben und kaum die Zeichen für ihren Namen, »weiße Pflaumenblüte«, tuschen konnte. Und nachdem Pao Yi eine Weile in Neuseeland war, schien es ihm, als würde die Stimme von Paak Mei ebenfalls

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