Die Farbe des Himmels
ist. Meiner Meinung nach hat er auch einen ziemlichen Knall, was aber sicher nicht ausbleibt, wenn man den ganzen Tag mit verkrachten Existenzen zu tun hat. Manchmal glaube ich, dass ich die einzig Normale hier bin. Aber das denkt bestimmt jeder von sich.
Der Vorteil ist, dass Antonia mir hier nicht ständig auf den Geist gehen kann. Sie kommt mich ab und zu besuchen und spielt dann die besorgte große Schwester. Aber auch nur, damit die anderen sie dafür halten. Diese Heuchlerin. Zum Teufel mit ihr! Sie will doch nur Ruhe vor mir haben und ihr Leben genießen.
Ich muss Schluss machen, gleich ist Nachtruhe. Die Signora hat ihren Plattenspieler endlich ausgeschaltet. Ich glaube, sie schläft. Hoffentlich träume ich nicht von diesem Lied. Ich habe es heute schon mindestens zwanzigmal gehört, und ich hasse es.
Erschöpft klappte Thea das Tagebuch zu. Sie sah auf die Uhr. Das Zifferblatt verschwamm vor ihren Augen. Energisch wischte sie die Tränen weg. Fast vier Uhr morgens. Sie stand auf und schüttelte den linken Arm, der eingeschlafen war. In der Küche löffelte sie Kaffeepulver in einen Becher und goss kochendes Wasser auf. An Schlaf war jetzt ohnehin nicht mehr zu denken.
»Wenn man sich etwas sehr wünscht, geht es auch in Erfüllung.« Wie oft hatte sie diese Worte von Schwester Margarethe gehört? »Aber es ist nicht immer ein Segen, wenn Wünsche Wirklichkeit werden.« Thea verstand erst jetzt die volle Tragweite dieser Worte. Ein Leben lang hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als etwas über ihre Herkunft zu erfahren und ihre leibliche Mutter zu finden. All das war nun in Erfüllung gegangen. Nur eben ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte.
Sie nahm die Kaffeetasse und trat ans Fenster. Am Horizont erschien bereits ein heller Streifen, und die ersten Vögel begannen zaghaft zu zwitschern. Wie konnten sie nur! Thea empfand es wie einen Verrat.
Sie dachte an Messmer, und für einen Augenblick hatte sie den Duft seines Aftershaves in der Nase und das flüchtige Aufflackern von Geborgenheit. Das hatte so unendlich gut getan. Sic sehnte sich danach, in den Arm genommen und getröstet zu werden. Ihr wurde schmerzlich bewusst, wie einsam sie war.
Und Micha?
Sie war sich nicht sicher, was er für sie empfand. Vielleicht bildete sie sich alles nur ein, und er war nichts als ein netter Kollege, der sich um sie und den Fall sorgte und dem es Spaß machte, sie hin und wieder ein wenig aufzuziehen. Sie überlegte, was er den anderen erzählt hatte. Ihr grauste bei der Vorstellung, den Soko-Raum betreten zu müssen. Alle Augen würden auf sie gerichtet sein, und jeder würde sich mitfühlend und verständnisvoll zeigen. Wahrscheinlich würde man sie wie ein rohes Ei behandeln. Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, sich krank zu melden. Das würde ihr sicher niemand übel nehmen. Aber nein, das wäre nur ein Aufschub.
Immer wieder drängte sich das Bild ihrer Mutter vor ihr geistiges Auge. Hätten sie sie doch nur ein paar Minuten früher gefunden! Der Notarzt und die Sanitäter hatten den leblosen Körper auf einem am Boden ausgebreiteten Gummilaken wieder belebt. Thea hatte reglos auf dem Teppich gekniet und wie in Trance die Beatmung mitverfolgt. Bei der Herzdruckmassage war sie jedes Mal zusammengezuckt, aus Angst, die Männer könnten den Brustkorb ihrer Mutter eindrücken und ihre Rippen brechen. Die Erleichterung, als der Arzt einen regelmäßigen Herzschlag meldete, konnte sie jetzt noch körperlich spüren.
Flüchtig streifte sie der Gedanke an Wolf Hauser. Sie fühlte eine tiefe Abwehr, als ihr bewusst wurde, dass er ihr Vater war. Und doch: So negativ er bei dieser ganzen Sache auch in Erscheinung getreten war, Thea bedauerte, dass sie keine Gelegenheit gehabt hatte, auch seine guten Seiten kennen zu lernen.
ACHT
So müssen sich die Gladiatoren gefühlt haben, bevor sie in die Arena stiegen, dachte Thea, als sie die Tür des Soko-Raums öffnete. Ihr Magen rebellierte, und ihre Augen brannten. Der Schlafmangel machte sich bemerkbar. Auch ihr »Guten Morgen« klang nicht ganz so beschwingt wie es eigentlich sollte.
Die Gespräche verstummten, und sie fühlte alle Blicke auf sich gerichtet.
»Irgendein Idiot hatte mich zugeparkt«, entschuldigte sie ihr Zuspätkommen. Die Rollos waren halb heruntergelassen, die Sonne fiel durch die Spalten der Jalousien und malte ein Streifenmuster auf die Kollegen, das sie wie Sträflinge aussehen ließ. Die Schüssel mit den
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