Die Farben der Finsternis (German Edition)
zufrieden, als sie darunter einen einsamen Schuhkarton fand. Rachel zog ihn heraus und nahm behutsam den Deckel ab. Falls Dr. Cage Amanda Liebesbriefe geschickt hatte – was ihn endgültig zum Idioten gemacht hätte, aber so waren die meisten Männer eben –, dann wären sie bestimmt hier drin. Mit klopfendem Herzen kippte sie den Karton aus. Ihre Neugier gewann die Oberhand und sie warf jeden Gedanken an Ordnung über Bord.
Die junge Frau legte konsterniert die Stirn in Falten, als sie die verschiedenen Zettel vor sich ausbreitete. Das waren keine Liebesbriefe. Ein Blatt erwies sich als eine Art Kontoauszug einer Buchhaltungsfirma mit einer vierteljährlichen Aufstellung mehrerer Investment- und Fondsdepots, hauptsächlich im Ausland – eins sogar auf den Kaimaninseln. Amanda lebte so bescheiden wie die meisten Studenten,aber offenbar war sie alles andere als pleite. In einem anderen Umschlag steckten zweihundert Pfund Bargeld. Das ergab genauso wenig Sinn. Warum sollte sie so viel Geld haben – und es dann auch noch verstecken?
Doch sie vergaß das Geld, als sie einen verblichenen Brief entfaltete, der laut Datum über zehn Jahre alt war. Er stammte von einem Arzt, der seine Praxis in der Harley Street hatte. Der Name sagte ihr nichts, aber hinter ihm standen viele Buchstaben. Ein Psychiater vielleicht? Rachel überflog neugierig die kurzen Absätze.
Das Kind Amanda Kemble ist schwer einzuschätzen. Sie ist bemerkenswert beherrscht und kann bezaubernd und verbindlich sein. Während der Tod des Vaters, den sie in der frühen Kindheit miterlebte, offenbar keinen bleibenden Schaden hinterlassen hat, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass der langwierige Krankheitsprozess und schließlich der Krebstod ihrer Mutter den kürzlichen psychotischen Schub teilweise erklären können. Als ich sie zu ihrer Mutter befragte …
Psychotischer Schub? Was sollte das denn heißen? Was hatte das alles zu bedeuten? Wer war dieses Mädchen, das sie sich in die Wohnung geholt hatte? Hatte Angie Lane davon gewusst? Sie las die Seite zu Ende und blätterte weiter, um herauszufinden, was die junge Amanda getan hatte, aber der Arzt spielte nur darauf an, ohne ins Detail zu gehen. Jedenfalls war er der Meinung, dass Amanda nach einem Jahr erneut vorstellig werden sollte. Rachel starrte auf das Blatt. Warum hatte sie das bloß behalten?
»Ich habe die Katze meiner Mutter getötet.«
Rachel hätte beinahe aufgeschrien, als die Stimme die Stille und ihre eigenen Gedanken zerriss. Sie hob den Blick. An der Tür stand Amanda, kühl und beherrscht.
»Ich weiß noch, dass es lange gedauert hat, bis sie endlich tot war. Vergleichsweise. Meine Mutter ist noch länger gestorben. Es kam mir vor, als würde sie ewig vor sich hin sterben. Die Katze starb an einem Nachmittag. Ich schnitt Stückchen von ihr ab, so wie sie es bei meiner Mutter gemacht hatten. Und genau wie bei meiner Mutter haben diese Amputationen die Katze auch nicht gerettet.« Sie machte eine Pause. »Es war eine Schweinerei, und Unordnung kann ich auf den Tod nicht ausstehen. Sie hätten wirklich wissen können, dass ich so etwas nicht noch mal mache.«
Rachel kauerte sich auf die Fersen und starrte die junge Frau an. Jetzt hatte sie wieder Angst, ihr Mund war trocken. Sie sollte etwas sagen, dachte sie, irgendwas Unverfängliches und Unschuldiges, doch sie spürte die Bürde ihrer eigenen Schuld in dem Schrieb, den sie in Händen hielt.
»Ich könnte anmerken, wie unhöflich es ist, die Sachen anderer Leute zu durchwühlen. Abgesehen davon gefällt einem das, was man findet, nie.« Sie hob die rechte Hand. »Suchst du vielleicht den hier?«
Etwas Silbernes glänzte in ihren Fingern. Ein Schließfachschlüssel.
»Schläfst du mit Dr. Cage?« Rachel fand endlich ihre Stimme wieder, ließ die Papiere, wie sie waren, und stand auf.
»Du lieber Gott, nein.« Amanda lachte, ein kurzes widerwärtiges Bellen. »Was für eine absurde Idee. Ich doch nicht, aber die dumme kleine Angie. Sie war in ihn verknallt.«
Rachel wollte noch etwas fragen, aber Amanda schloss die Tür und hob die andere Hand, die sie hinter dem Rücken versteckt hatte – mit dem Brotmesser.
Irgendwo im Flur klingelte ihr Handy.Als jemand von der Wache zurückrief und ihm Rachel Honeys Adresse mitteilte, hatte sich Cass bereits durch halb London gezwängt und verfluchte und beschimpfte alle anderen Verkehrsteilnehmer, die das Pech hatten, nicht schnell genug Platz zu machen, obwohl sie praktisch nur
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