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Die Farben der Finsternis (German Edition)

Die Farben der Finsternis (German Edition)

Titel: Die Farben der Finsternis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Pinborough
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erfahren hatte, dass ich eine Lebertransplantation brauchte. Am Vortag war er bei mir im Büro gewesen und wir hatten zusammen zu Abend gegessen. Als ich dann eine freundliche Stimme brauchte, war seine die einzige, die ich in Gedanken hören konnte. Das hört sich jetzt ganz schön pathetisch an, was? Aber Christian gab einem das Gefühl, dass er sich sorgte.«
    Trotz seiner desinteressierten Fassade lauschte Cass aufmerksam dieser Momentaufnahme aus dem Leben seines Bruders. Christian war der gute Bruder, das hatte er schonvorher gewusst. So viel war ihm seit jeher klar gewesen, auch als Christian noch lebte und ihrer beider Leben noch einigermaßen normal wirkten. Doch die Geschichten von der ruhigen »Fürsorge« seines Bruders erstaunten ihn immer wieder. Cass hatte keine Geduld, was Menschen anging. Meistens konnte er sie nicht leiden, und selbst wenn, fehlte es ihm oft an Vertrauen. Wie war es Christian nur gelungen, so anders zu sein?
    »Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass wir uns angefreundet hatten. Er war für mich da und ich vertraute ihm. Er fragte seine Vorgesetzten bei Der Bank, ob sie mir einen besseren Platz auf der Transplantationsliste beschaffen könnten, aber anscheinend waren sie dazu nicht in der Lage.«
    Zum ersten Mal entdeckte Cass einen Anflug von Bitterkeit in Marlowes Lächeln.
    »Oder sie wollten es nicht«, fuhr er fort. »Meine Lebererkrankung ist offensichtlich selbst verschuldet, da haben die Leute weniger Mitleid.«
    Cass schwieg. Der Mann war krank, aber das war nicht Cass’ Problem. Er kannte Edgar Marlowe nicht und es war ihm egal – er war nicht Christian. Das Leiden Fremder berührte Cass nicht.
    »Wie auch immer – vor sieben Monaten rief Ihr Bruder mich an, ungefähr drei Wochen vor seinem Tod. Der Anruf kam von einem Münztelefon, was mir seltsam vorkam, und er hörte sich etwas verwirrt an, was mir noch mehr Sorgen machte. Er wollte sich mit mir treffen und ich tat ihm natürlich den Gefallen. Zu jener Zeit hatte ich insgesamt ein gutes Gefühl. Man hatte mir gesagt, die Aussichten für eine Transplantation seien gut, und ich rutschte auf der Liste rasch nach oben. Ich hatte aufgehört zu trinken und war optimistisch, was die Zukunft anging.«
    »Was wollte mein Bruder?«
    »Er hat mir das hier gegeben.« Marlowe zog einen versiegelten Umschlag aus der Tasche. »Christian sagte, wenn ihm oder seiner Familie irgendetwas zustoßen würde, sollte ich Ihnen den Brief überbringen. Er war ein wenig betrunken, glaube ich, und sagte manches, was ich überhaupt nicht verstand. Er meinte, er wisse nicht, wie er damit umgehen solle. Er sagte, er sei nicht sicher, dass er etwas ändern könne, und dass es keinem von beiden etwas bringe, wenn er es versuchte. Ich verstand nur eins: Christian hat gesagt, wenn ihm etwas passierte, würden Sie wissen, was zu tun wäre. Er sagte, Sie seien gut in diesen Dingen. Dann sagte er noch, ich sei der einzige Mensch, dem er zutraute, den Umschlag auch wirklich abzuliefern.« Er machte eine Pause. »Ich habe ihn nie wiedergesehen.«
    Marlowe hatte langsam gesprochen, als spulte er die Erinnerung noch einmal ab, um auch alles richtig zu machen. Cass beugte sich vor und nahm ihm behutsam den Umschlag aus der Hand.
    »Haben Sie reingeguckt?«
    »Nein.« Marlowe schüttelte den Kopf. »Ich bin vielleicht nicht so integer wie Ihr Bruder, aber ich bin Anwalt. Im Laufe meines Berufslebens hatte ich mit einigen versiegelten Umschlägen zu tun und ich habe gelernt, dass es sich nicht selten um die Büchse der Pandora handelt. Einige sollte man lieber gar nicht erst öffnen.«
    »Wollen Sie damit sagen, dass Sie mir nach all den Anstrengungen, die Sie unternommen haben, raten, den Brief nicht aufzumachen?«
    »Nein, keineswegs.« Als Marlowe lächelte, wurden seine Lippen durch die Dehnung weiß. »Das bleibt selbstverständlich Ihnen überlassen.«
    Cass musterte den Briefumschlag. Teuer. Er fühlte sichan wie Leinen. Diese Art Papier hatte er schon mal in den Fingern gehabt.
    »Haben Sie jemandem davon erzählt?« Cass hatte erlebt, wie Die Bank vorging. Ihre Angestellten mussten hundertprozentig loyal sein.
    »Das hätte ich tun sollen. Und es ist auch nicht so, als hätte ich nicht darüber nachgedacht.« Marlowe verzerrte den Mund zu einem bitteren Lächeln. »Was glauben Sie, warum ich so lange gebraucht habe, um den Umschlag zu überbringen?«
    »Und warum haben Sie es nicht getan?«
    »Die Dinge ändern sich – zum Beispiel meine Diagnose.

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