Die Farben der Finsternis (German Edition)
Anscheinend geht es mir doch schlechter, als die Ärzte dachten.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Ich habe noch zwei Wochen, höchstens drei. Jetzt kann mich nicht mal mehr eine Transplantation retten.«
»Das heißt, sie könnten Ihnen nichts mehr dafür bieten. Ist es das, was Sie mir sagen wollen?«
»Möglicherweise. Mit dem Leben lässt sich trefflich schachern. Doch ich denke, ich hatte meine Wahl bereits getroffen. Ich wusste schon damals, als Christian mir den Umschlag gab, dass ich eines Tages hier stehen würde. In gewisse Prozesse sollte man nicht eingreifen.«
Marlowe schob den Stuhl zurück und hatte sichtlich Mühe beim Aufstehen. Er streckte die Hand aus. »Ich glaube kaum, dass wir uns wiedersehen. Alles Gute.«
Seine Hand fühlte sich kühl und schmierig an, und Cass dachte, nur mit Glück würde der Anwalt es noch zwei Wochen machen. Sie gingen schweigend zum Anmeldeschalter und Cass verabschiedete den Sterbenden mit einem stillen Nicken. Der Umschlag lag schwer in seiner Hand, als er ihm nachsah, wie er langsam die Vortreppe hinunterging. Was hatte Christian herausfinden können, das erCass nicht mitteilen konnte, solange er noch am Leben war? Und warum wollte er selbst nichts dagegen unternehmen? Es bringe keinem von beiden etwas . Wen meinte er damit?
Statt in sein Büro zurückzukehren, ging Cass auf die Toilette und schloss sich ein. Die unvermutete Stille summte ihm in den Ohren, während er den Umschlag anstarrte. Er musste ihn nicht öffnen; er konnte ihn auch zerreißen und runterspülen. Dann würde die Vergangenheit ruhen – der Anwalt starb ohnehin in den nächsten Wochen und keiner würde etwas davon erfahren. Cass senkte den Blick auf seine Schuhe. Einen kurzen Augenblick lang meinte er rote Spritzer darauf zu sehen.
»Scheiß drauf«, murmelte er. Nur weil er etwas nicht wusste, würde es nicht weniger wahr sein. Er riss den Briefumschlag auf und zog den Inhalt heraus – einen gefalteten Bogen Briefpapier, unter den man früher ein liniertes Blatt gelegt hatte, damit die Schrift auch schön ordentlich und gerade war. Sein Herz schlug so schnell, dass Cass glaubte, sein Hemd würde flattern. Er glättete den Brief; nur ein einziger Satz stand dort schwarz auf weiß in Christians feiner Handschrift.
SIE haben Luke.
Und wieder sah die Welt anders aus.
6
Lucius Dawson kam als Letzter, zehn Minuten nach Beginn des Briefings. Die Premierministerin hatte nicht auf ihn gewartet, was Abigail nicht überraschte. Seit den Bombenattentaten war die Stimmung umgeschlagen, und Alison McDonnell hatte das Land nicht mehr so gut im Griff, was neue Spannungen in ihrem Umfeld ausgelöst hatte. Die Menschen trauerten, sie waren wütend und fürchteten sich. Die Störung, die durch den Systemschaden in der U-Bahn verursacht wurde, stellte eine zusätzliche Belastung für die ohnehin marode Wirtschaft dar. Dazu kamen die Kosten für die Instandsetzung. Großbritannien hatte sich mit den Franzosen darauf einigen können, den Eurotunnel zu schließen, aber London war darauf angewiesen, dass die Tube funktionierte.
Nachdem die erste Phase der Trauer vorbei war, versammelten sich trotz der Explosionen in Russland die Geier auf den Oppositionsbänken, und die Premierministerin musste bald Antworten liefern. Russland war so weit weg, dass sich niemand wirklich dafür interessierte. Seit dem Niedergang der Weltwirtschaft dachten die Menschen mehr an sich selbst. Wohltätigkeit begann zu Hause. Die Schlinge lag noch nicht um ihren Hals, aber McDonnell wusste, dass sie über ihr baumelte, und war nicht mehr wie früher die Ruhe in Person.
»Das verstehe ich nicht«, sagte sie gerade und bemerkte kaum, dass der Innenminister neben ihr Platz nahm. »Das gesamte Material der Überwachungskameras hat einen Timecode und zeigt das richtige Datum an. Da kann es doch keinen Fehler geben, oder?«
»Nein«, antwortete Andrew Dunne. »Das ist alles korrekt.«
»Lassen Sie es noch mal ablaufen, aber langsamer.« Sie warf Dawson einen flüchtigen Blick von der Seite zu. »Ich glaube kaum, dass Ihnen das gefallen wird.«
Der Chef der Sicherheitspolizei tippte etwas in seinen Laptop und die Bilder auf dem Bildschirm liefen weiter.
»Okay, das ist Ealing Broadway um 13:04 Uhr. Die Aufnahmen der Überwachungskameras vom gegenüberliegenden Ufer und dem Pri-Maxx-Bekleidungsgeschäft, in dem die erste Bombe hochging, zeigen beide, wie dieser Mann aus dem Laden kommt und nach links geht. Zwei Minuten später
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