Die Farben der Finsternis (German Edition)
ihm genauso unangenehm wie ihr, über Gefühle zu reden.
Sie nickte. »Wir weinen nicht, Fletcher. Das wissen Sie doch.« Es hörte sich an wie in einer billigen Geheimdienstserie.
»Quatsch. Jeder Mensch weint. Alle sollten weinen, nur so bleiben wir menschlich. Sonst verliert man den Verstand.«
Abigail konnte sich nicht vorstellen, dass Fletcher im Erwachsenenalter auch nur eine einzige Träne vergossen hatte.
»Wann kommen Ihre Eltern aus Portugal zurück?«
Sie öffnete den Mund, um zu antworten, musste dann aber mit offenem Mund weiterlaufen, weil es ihr nicht einfiel. Sie hatten es ihr gesagt, aber sie hatte es vergessen. Dort, wo die Kopfschmerzen nachgelassen hatten, fühlte sich ihr Hirn irgendwie schwammig an.
»Morgen«, log sie. War es wirklich morgen oder schon heute Abend? Eins von beiden, aber es war ihr eigentlich egal und das fühlte sich falsch an. Bei Gott, es war falsch. Und doch richtig. Irgendetwas geschah mit ihr, die Leere setzte sich alarmierend rasch fest und der letzte Rest Kopfweh nistete in einer ruhigen Ecke und sah dem Ganzen zu.
Sie waren an ihrer Eingangstür angekommen. Auf der Straße war nicht viel los. Noch vor Kurzem hatte hier buntes Treiben geherrscht, doch mittlerweile fesselte die Angst die Menschen an den heimischen Herd. Abigail fragte sich allerdings, was ihrer Meinung nach so Schreckliches in der Finsternis passieren konnte, das nicht genauso gut oder gar wahrscheinlicher bei Tageslicht drohte. Sie selbst fand die Dunkelheit tröstlich.
Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, blieb Fletcher unbeholfen auf der Schwelle stehen. Sie hatte ihren Spaßdaran, dass er von einem Bein aufs andere trat. So fand sie ihn noch anziehender.
»Wenn Sie über etwas reden möchten, wissen Sie ja, wie Sie mich erreichen können«, sagte er mitfühlend. Doch seine Augen logen nicht. Er wollte wissen, was der dicke Mann gesagt hatte, bevor er sich unter die U-Bahn geworfen hatte. Er traute ihr nicht. Wahrscheinlich hatte er schon einen Wagen oder eher ein Team organisiert, das ihre Wohnung überwachen sollte. Sie musste dafür sorgen, dass er sich entspannte. Außerdem hatte sie Lust auf etwas Wärme. Ihr eigenes Blut wurde immer kälter und sie hatte so ein Gefühl, dass es das letzte Mal für lange Zeit sein könnte – vielleicht sogar für immer.
»Ich möchte nicht reden.« Sie sah ihn immer noch an, als sie die Tür aufdrückte. »Ich will, dass Sie mich ficken. Damit ich mich lebendig fühle.«
Sie tauschten einen langen misstrauischen Blick, bevor er reinkam und langsam die Tür hinter sich schloss.
»Sie brauchen nur dienstagabends von sechs bis acht zu kommen. Es handelt sich um einen sechswöchigen Versuch.« Dr. Shearman lächelte das Mädchen an, das mit großen Augen durch das kleine Fenster einer Kabine schaute. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Die Hypnose ist vollkommen ungefährlich.«
»Ich kann gar nicht glauben, dass Sie mir so viel Geld dafür zahlen wollen, um mich vom Schlafwandeln zu heilen.« Jenna Smart grinste zurück. Ihr blonder Bob wurde auf dem letzten Zentimeter knallpink. »Was bringt Ihnen das denn?«
»Ich kann Ihnen nicht garantieren, dass Sie vollständig geheilt werden, aber wir tun unser Bestes.« Außer dem lockigen ergrauenden Bart war von Dr. Shearmans Gesichtnicht viel zu sehen. Er war gerade vierzig geworden; mit sechzig würde er als Weihnachtsmann auftreten können, wenn er sich nicht rasierte. »Wir interessieren uns für die Veränderungen in der Hirnstruktur unter Hypnose sowie dafür, wie sie sich von Mensch zu Mensch unterscheidet. Nicht sonderlich spannend, fürchte ich.« Sein Lächeln wurde breiter. Er hatte ein freundliches Gesicht und Jenna lächelte zurück.
»Also geht es nur um zwei Stunden pro Woche?«
Dr. Shearman nickte.
»Da bin ich so was von dabei.«
Der Arzt musste über ihre fröhliche Begeisterung lachen. »Wenn Sie mir dann bitte folgen würden, damit einer meiner Kollegen die Details klären kann? Wir sehen uns dann am Dienstag.«
Nachdem er die Studentin zum Empfang geführt hatte, machte Dr. Shearman sich auf den Weg in sein Büro, wo die Testergebnisse der letzten Untersuchung auf ihn warteten. Er holte sich noch einen Kaffee und ging ans Ende des Flurs. Er war müde, weil er selbst nicht besonders gut geschlafen hatte. Doch im Gegensatz zu Jenna Smart steckte in ihm nicht mehr das Erholungspotenzial eines jungen Körpers. Als der Arzt die Tür öffnete und sich auf eine Pause von dem
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