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Die Farben der Magie

Die Farben der Magie

Titel: Die Farben der Magie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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Dunkelheit verschwanden. Vor Zweiblum, in Brusthöhe, befand sich ein kleiner Messingknauf in Form eines Drachen.
Als er ihn drehte, schwang die Tür sofort und beunruhigend geräuschlos auf.
Einen Sekundenbruchteil später knisterten Funken in seinem Haar, und heiße Luft wehte ihm entgegen. Der Staub reagierte nicht etwa wie auf einen normalen Windstoß: Er stieg ebenfalls auf, zugegeben, nahm jedoch ebenso sonderbare wie unheimliche Formen an, bevor er sich wieder legte. Gleichzeitig vernahm Zweiblum das schrille Kichern der Dinge in den fernen Kerkerdimensionen, jenseits des zerbrechlichen Gitters von Zeit und Raum. Schatten erschienen dort, wo eigentlich gar keine sein durften. Die Luft summte wie ein Bienenstock.
Anders ausgedrückt: Der Tourist erlebte starke magische Entladungen.
Ein grünliches blasses Glühen erhellte die Kammer hinter der Tür. An den Wänden standen Hunderte von Särgen, jeder auf einem eigenen Marmorsockel. In der Mitte des Zimmers sah Zweiblum ein Podium mit einem steinernen Stuhl. Dort saß jemand völlig reglos und sagte mit hohler, brüchiger Stimme: »Komm herein, junger Mann!«
Zweiblum trat vor. Die Gestalt auf dem Stuhl schien menschlich zu sein, soweit er das im matten Licht erkennen konnte, aber sie nahm eine sonderbare Haltung ein. Der Tourist war plötzlich froh, sie nicht besser erkennen zu können.
»Weißt du, ich bin tot«, fuhr die Stimme im Plauderton fort, und Zweiblum hoffte inständig, daß sie, wie üblich, aus dem Mund kam. »Das hast du wahrscheinlich schon bemerkt.«
    »Äh«, antwortete der Tourist. »Ja.« Er wich langsam zurück.
»Es ist offensichtlich, nicht wahr?« meinte die Stimme. »Ich nehme an, du bist Zweiblum. Oder kommt das erst später?«
    »Später?« wiederholte Zweiblum. »Später als was?« Er blieb stehen.
»Nun«, sagte die Stimme, »wenn man tot ist, hat man einen wichtigen Vorteil: Man kann die Fesseln von Raum und Zeit abstreifen. Woraus sich allerdings ein Nachteil ergibt: Man sieht, was geschehen ist und passieren wird, und zwar zur gleichen Zeit. Obwohl ich natürlich weiß, daß die Zeit als solche gar nicht existiert.«
    »Warum sollte das ein Nachteil sein?« erwiderte Zweiblum.
»Stell dir einmal vor, daß jeder Augenblick einerseits eine alte Erinnerung und andererseits eine unangenehme Überraschung ist – dann verstehst du vielleicht, was ich meine. Wie dem auch sei: Jetzt fällt mir wieder ein, was ich dir erzählen werde. Oder habe ich bereits alles geschildert? Übrigens, du hast da einen hübschen Drachen. Oder habe ich das schon gesagt?«
    »Er gefällt mir sehr«, entgegnete Zweiblum. »Er ist einfach so erschienen.«
    »Einfach so erschienen?« wiederholte die Stimme. »Du hast ihn gerufen!«
    »Nun, äh, um ganz offen zu sein…«
    »Du hast die Macht!«
    »Ich habe nur an ihn gedacht.«
    »Genau darin besteht die Macht! Wenn du gestattest: Ich bin Greicha der Erste, falls du das noch nicht wissen solltest. Oder habe ich mich schon vorgestellt? Entschuldige bitte. Leider mangelt es mir an Erfahrungen mit der Transzendenz. Nun, worüber sprachen wir gerade? Ah, ja, die Macht. Damit kann man Drachen beschwören.«
    »Darauf hast du bereits hingewiesen«, sagte Zweiblum.
»Tatsächlich? Ich hatte es jedenfalls vor.«
    »Aber wie funktioniert das? Mein ganzes Leben lang habe ich an Drachen gedacht, aber erst jetzt erschien einer.«
    »Oh, die Sache ist so: Drachen haben nie auf die Art existiert, wie du (und auch ich, bis man mich vor etwa drei Monaten vergiftete) sie dir vorgestellt hast. Damit meine ich natürlich den echten, wahren Drachen, draconis nobilis. Der Sumpfdrache von der Gattung draconis vulgaris ist im Vergleich dazu ein banales Geschöpf, das nicht unsere Aufmerksamkeit verdient. Wahre Drachen hingegen sind so vornehme und erhabene Wesen, daß sie in dieser Welt nur dann Gestalt annehmen können, wenn sie von geschickter, fähiger Phantasie erdacht werden. Außerdem muß sich die entsprechend begabte Person innerhalb eines ausreichend starken magischen Kraftfelds befinden, das dabei hilft, Lücken in den Wänden zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren zu schaffen. Wenn so etwas geschieht, kriechen die Drachen hindurch und prägen der Möglichkeitsmatrix dieser Welt ihre Gestalt ein. Ich war ein guter Drachenrufer, als ich noch lebte. Bis zu fünfhundert Exemplare konnte ich mir vorstellen, jawohl. Meine Kinder sind nicht annähernd so fähig. Selbst Liessa bringt es höchstens auf fünfzig eher unscheinbare

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