Die Farben der Magie
Jetzt muß ich rudern.«
Um einen Blick nach vorn zu werfen, wäre Rincewind nichts anderes übriggeblieben, als sich umzudrehen – und dann hätte er auch den Troll gesehen. Um das zu vermeiden, beobachtete er den Randbogen.
Er wölbte sich durch den Dunst hinter dem Rand und erschien nur morgens und abends, wenn das Licht der orbitalen Sonne an dem gewaltigen Leib der Schildkröte Groß-A'Tuin vorbeiglänzte und das magische Kraftfeld der Scheibenwelt genau im richtigen Winkel traf.
Ein doppelter Regenbogen schimmerte. Dicht über dem Randfall leuchteten die sieben geringeren Farben und flackerten in der Gischt des sterbenden Ozeans.
Sie waren blaß und unscheinbar, wenn man sie mit dem zweiten Band hinter ihnen verglich, das sich nicht dazu herabließ, im gleichen Spektrum zu glühen.
Es handelte sich um die Königsfarbe, von der alle anderen Farben nur unbedeutende verwaschende Reflexionen sind: Oktarin, die Farbe der Magie, das Pigment der Phantasie. Sie lebte, schillerte und vibrierte, und ihr Erscheinen wies in aller Deutlichkeit darauf hin, daß banale Materie sich der Macht des magischen Bewußtseins unterordnen mußte. Sie stellte die Kraft der Zauberei dar.
Rincewind fand, daß sie wie grünliches Purpur aussah.
N ach einer Weile offenbarte sich ein Fleck in den brodelnden Fluten als kleine Insel oder Felsen, der direkt am Rand der Welt aufragte, dort, wo der endlose Wasserfall begann. Darauf hatte jemand eine Hütte aus Treibholz gebaut, und Rincewind beobachtete, daß sich das oberste Seil an einigen Eisenstangen fortsetzte und durch ein rundes Fenster in der Hütte verschwand. Später erfuhr er den Grund dafür: Einige kleine am Tau befestigte Bronzeglocken wiesen den Troll auf Bergungsgut in dem Bereich des Umzauns hin, für den er zuständig war.
An der mittwärtigen Seite der Insel gab es eine schwimmende Umzäunung. Sie enthielt den einen oder anderen Schiffsrumpf und ziemlich viel Treibholz in Form von Planken, Balken und Baumstümpfen, aus denen hier und dort Blätter sprossen. So nahe am Rand der Scheibenwelt war das magische Kraftfeld derart stark, daß eine dunstige Korona alle Gegenstände umhüllte. Pure Illusion entlud sich spontan.
Das Boot knarrte leise, als es an eine Treibholzmole stieß. Dadurch schloß sich ein magischer Stromkreis, und Rincewind spürte eine gewaltige okkulte Aura – sie erschien ihm ölig, schmeckte bläulich und roch nach Blech. Um ihn herum regnete reine, ungeformte Magie auf die Welt herab.
Der Zauberer und Zweiblum traten auf den Steg, und zum erstenmal sah Rincewind den Troll.
Das Wesen wirkte nicht annähernd so schrecklich, wie er zunächst vermutet hatte.
Hmm, sagte seine Vorstellungskraft schließlich.
Der Troll war keineswegs entsetzlich. Anstelle eines halb verfaulten, mit zahllosen Tentakeln ausgestatteten Ungeheuers erblickte Rincewind einen gedrungenen, nicht besonders häßlichen alten Mann, der in einer Stadt kaum Aufsehen erregt hätte. Vorausgesetzt, die Stadtbewohner waren daran gewöhnt, alten Männern zu begegnen, die größtenteils aus Wasser bestanden. In diesem Fall schien der Ozean Leben geschaffen zu haben, ohne sich mit der langwierigen und anstrengenden Evolution aufzuhalten: Er hatte einfach einem Teil von sich die Form eines Zweifüßers gegeben und ihn an Land geschickt, wo er sich mit einem leisen Gluckern bewegte. Der durchsichtige Troll war angenehm blau, und Rincewind beobachtete, wie ihm einige Silberfische über die Brust schwammen.
»Es ist unhöflich, jemanden anzustarren«, sagte der Troll. Als er sprach, glitzerte ihm wellenkammartiger Schaum auf den Lippen. Dann schloß er den Mund wieder, und Rincewind dachte dabei an Wasser, das über einen Stein schwappt.
»Tatsächlich?« erwiderte der Zauberer. »Warum?« Wie hält er sich zusammen? dachte er verwundert. Warum fließt er nicht einfach auseinander?
»Wenn ihr mir jetzt zu meinem Haus folgt…«, sagte der Troll würdevoll. »Dort gebe ich euch neue Kleidung und etwas zu essen.« Er schritt davon, ohne sich umzudrehen und festzustellen, ob ihm die beiden Männer folgten. Wohin sollten sie auch gehen? Es wurde dunkel, und kühler Wind kam auf. Der kurzlebige Randbogen verblaßte bereits, und der Nebel über dem Wasserfall lichtete sich.
»Komm!« Rincewind ergriff Zweiblum am Ellbogen, doch der Tourist rührte sich nicht von der Stelle.
»Komm!« wiederholte der Zauberer.
»Wenn es ganz dunkel ist…«, begann Zweiblum und blickte zu den Wolken hinauf.
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