Die Farben der Sehnsucht
Hände vors Gesicht und brach in ein herzzerreißendes Schluchzen aus.
Ich konnte es nicht ertragen, meine Nichte so verzweifelt weinen zu sehen, trat zu ihr und ihren Eltern und legte meine Arme um die drei. Als wir uns irgendwann voneinander lösten, setzte Julia sich zu ihrer Mutter auf den breiten Sessel. Sie ergriff Margarets Hand und umklammerte sie.
„Es ist an der Zeit, dass wir miteinander reden“, sagte Julia und klang erwachsener als jeder andere von uns.
„Ich habe einen Fehler gemacht“, gab Margaret zu. Sie sprach so leise, dass ihre Worte kaum zu hören waren.
„Nein“, erwiderte Julia und schüttelte heftig den Kopf. „Ich bin froh, dass du es getan hast, Mom, denn nur so konnte sich die Lage so zuspitzen. Es musste so kommen, es war nötig – aber bisher war das nicht der Fall. Jeder hat so viel Angst, über den … Unfall zu sprechen. Dabei muss ich darüber reden. Auch du und Dad müsst darüber reden. Wir alle brauchen das“, sagte sie und warf einen Blick in Richtung Flur.
Hailey trat aus dem Schatten hervor. Ihr süßes Gesicht war tränenüberströmt. Langsam kam sie ins Zimmer und setzte sich zu Brad und mir auf das Sofa. Ich zog sich zu mir heran, und sie lehnte sich an mich.
„Jeder ist so wütend“ , fuhr Julia fort. „Wir alle bemühen uns, so zu tun, als sei alles in Ordnung – doch das ist es nicht. Und wir können die Tatsache, dass ich überfallen wurde, nicht länger ignorieren. Ich hätte auch sterben können – aber ich habe es überlebt.“
„Und ich danke Gott dafür“, flüsterte Margaret.
Matt nickte.
„Nach dem Überfall wollte ich nicht mehr leben, und du und Dad habt mir Hilfe besorgt. Der Psychologe und ich haben uns sehr lange und intensiv unterhalten. Ich erfuhr, dass meine Empfindungen nicht untypisch waren. Er erklärte mir, dass viele Opfer so fühlen und reagieren wie ich.“ Sie holte tief Luft. „Es geht mir allmählich besser, und ich habe viel dazugelernt. Und ich will, dass alle das wissen.“
Tränen rannen über Margarets Wangen.
„Mom“, sagte Julia und blickte ihre Mutter an. „Auch ich war wütend – so wütend, dass ich sogar sterben wollte. Ich hasste Danny Chesterfield so wie du ihn auch hasst, aber ich habe erkannt, was dieser Zorn aus dir gemacht hat. Ich habe erkannt, was er aus mir gemacht hat.“
Margaret nickte und fuhr sich mit einem Ärmel über das Gesicht.
„Wut verzehrt so viel Energie, so viel Kraft“, sagte Julia.
Ich fragte mich, woher meine Nichte diese Weisheit nahm und begriff, dass sie wohl ein Nebenprodukt des Schmerzes war.
„Nachdem man mich aus dem Krankenhaus entlassen hatte, war ich davon besessen, ihm alles heimzuzahlen und ihm wehzutun. Mir Mittel und Wege auszudenken, ihn büßen zu lassen, ließ mich die ersten Wochen überstehen. Nachts ging ich ins Bett und träumte davon, ihn auf eine viel befahrene Straße zu stoßen und dabei zuzugucken, wie er um sein Leben kämpfte. Ich träumte davon, zu beobachten, wie er um Hilfe rief, um dann einfach zu gehen und seine Schreie zu hören, wenn er von einem Auto erfasst wurde.“
Meine Schwester neigte den Kopf, und instinktiv spürte ich, dass die Worte ihrer Tochter eine Saite in Margaret zum Klingen gebracht hatten.
„Eines Tages war ich mit einigen Freundinnen zusammen“, sagte Julia und senkte die Stimme. „Sie fragten mich, ob ich am ‚Lauf ins Leben‘ für ‚Relay for Life‘ teilnehmen wolle.“
Julia lächelte mir zu, und ich nickte. Sehr gut konnte ich mich an das schöne Wochenende erinnern, das wir zusammen verbracht hatten.
„Meine Freunde sammelten Geld, um Leben zu retten“, fuhr Julia fort, „und während sie die Welt ein Stück weit zu einem besseren Ort machten, schmiedete ich Rachepläne.“ Sie senkte den Blick, als schämte sie sich. „An dem Tag begriff ich, dass ich den Menschen, der ich geworden war, nicht mochte.“
Tränen stiegen mir in die Augen, und ich versuchte zu verstecken, wie tief mich Julias Worte berührten. Auch alle anderen waren ergriffen. Ihre Einsicht bewegte und beeindruckte mich, und wieder wurde mir bewusst, dass dafür ein furchtbarer Preis hatte gezahlt werden müssen.
„Mom.“ Julia legte Margarets Hand an ihr Herz. „Vermutlich werde ich nie mehr derselbe Mensch sein, der ich vor dem Überfall war – und in mancher Hinsicht ist das auch gut so. Aber diejenige, um die ich mir im Augenblick wirklich Sorgen mache, bist du.“
Margaret senkte den Kopf – unfähig, ihrer Tochter in
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