Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
Vom Netzwerk:
ihr das Riechsalz unter die Nase. »Ich werde Mr. Henry jetzt am besten sein Zimmer zeigen.«
    »Verity!« Mrs. Merings Stimme ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, daß sie mit Lady Schrapnell verwandt war. »Das ist vollkommen überflüssig. Das Mädchen kann Mr. Henry zu seinem Zimmer bringen.«
    »Ja, Ma’am«, sagte Verity gehorsam. Sie raffte ihre Röcke so geschickt, daß sie weder die krummen Füße der Tische noch den verschnörkelten Blumenständer mit der Apidistra streiften, als sie quer durch das Zimmer zur Klingel ging. »Ich bin froh, daß Sie da sind«, murmelte sie und zog an der Quaste. »Ich war schon halb krank vor Sorge.«
    »Ich…« begann ich.
    »Bring mich auf mein Zimmer«, sagte Mrs. Mering zu Tossie. »Ich kann nicht mehr. Verity, sag Baine, er soll mir eine Tasse Kamillentee bringen. Mesiel, belästige Professor Peddick nicht weiter mit deinen dämlichen Fischen.«
    Colleen erschien inmitten dieser Befehlsausgabe und bekam die Anweisung, sie solle mir mein Zimmer zeigen.
    »Ja, Ma’am«, sagte sie mit einem Knicks und führte mich zur Treppe, vor der sie einen Moment lang stehen blieb, um eine Lampe zu entzünden.
    Die Auffassung, daß bei der Innenausstattung oft weniger mehr ist, hatte sich 1888 offenbar noch nicht durchgesetzt.Unzählige goldgerahmte Porträts von Ahnen in Kniehosen, Rüstungen oder in goldglänzender Spitze schmückten die Wände des Treppenaufgangs, und im Flur oben standen ein Schirmständer, eine Büste von Darwin, ein großer Farn und eine Laokoonstatue, [51] die von einer riesigen Schlange umringelt wurde, aufgereiht.
    In der Mitte des Flures machte Colleen vor einer bemalten Tür halt und hielt sie mit einem Knicks für mich auf. »Ihr Zimmer, Sir«, sagte sie. Durch ihren irischen Akzent klang es wie Sorrr.
    Dieser Raum war nicht ganz so vollgestopft wie das Wohnzimmer. Er enthielt nur ein Bett, einen Waschtisch, einen Nachttisch, einen Nachtstuhl aus einem dunklen Holz, einen mit Chintz bezogenen Stuhl, eine Kommode, einen Spiegel und einen wuchtigen Schrank, der eine ganze Wand des Zimmers ausfüllte – ein Segen, denn das Tapetenmuster zeigte Spaliere, an denen sich monströs große Prunkwinden hochrankten.
    Das Mädchen stellte die Lampe auf den Nachttisch und flitzte durch das Zimmer zum Waschtisch, um den Krug zu holen. »Ich bringe Ihnen gleich das heiße Wasser, Sorrr«, sagte sie und huschte hinaus.
    Ich schaute mich im Zimmer um. Das Motto der Victorianer bei der Inneneinrichtung hieß offenkundig. »Laßt keinen Millimeter unbedeckt«. Auf dem Bett lag eine Überdecke, über der ihrerseits eine weiße luftige Häkeldecke lag, der Frisiertisch und die Kommode waren mit Gestecken aus getrockneten Blumen und weißen Leinenschärpen mit Spitzenbesatz geschmückt, und auf dem Nachttisch lag ein Schal aus imitiertem Kaschmir und über ihm ein gehäkeltes Tischdeckchen.
    Sogar die Toilettenartikel auf der Kommode trugen gestrickte Häubchen. Ich zog die Gegenstände aus den Hüllen und betrachtete sie in der Hoffnung, daß sie nicht ebenso fremdartig waren wie die Küchengeräte. Nein, es waren Haarbürsten, und hier war ein Rasierpinsel und ein Schälchen mit Seife.
    Wir hatten uns vor den Sprüngen einer langanhaltenden Depilation unterziehen müssen, da sich Rasieren in früheren Zeiten für gewöhnlich schwierig gestaltet hatte, und ich hatte eine Behandlung bekommen, bevor ich mit den Wohltätigkeitsbasaren anfing, aber sie würde nicht für die ganze Zeit, wo ich hier war, anhalten. War 1888 schon der Rasierapparat erfunden?
    Ich zog die gestrickte Hülle von einer emaillierten Schachtel, öffnete sie, und die Antwort lag vor mir. Zwei altmodische Rasierermesser befanden sich darin, mit elfenbeinernen Griffen und lebensgefährlich aussehenden Klingen.
    Es klopfte an der Tür. Als ich öffnete, kam das Mädchen mit dem Krug herein, der beinahe so groß war wie sie selbst. »Das heiße Wasser, Sorrr«, sagte sie, setzte den Krug ab und knickste wieder. »Wenn Sie noch etwas wünschen, hier ist die Klingel.«
    Sie machte eine unbestimmte Geste zu einem langen Band, das an der Wand über dem Bett hing und mit Veilchen bestickt war, und es war gut, daß ich Tossie beobachtet hatte, wie sie nach dem Butler klingelte, sonst hätte ich das Band für einen Teil der Dekoration gehalten.
    »Danke, Colleen«, sagte ich.
    Sie hielt mitten im Knicks inne. »Verzeihung, Sorrr«, sagte sie mit verlegener Miene und wrang mit der Hand ihre Schürze. »Ich heiße

Weitere Kostenlose Bücher