Die Farben der Zeit
er eine andere geschichtliche Schlüsselfunktion hatte – vielleicht ein deutsches Flugzeug abschoß oder ähnliches. Sie gehen auch dieser Sache nach.«
»Und was sollen wir in der Zwischenzeit tun?«
»Schadensbegrenzung. Wenn möglich, sollen wir Terence nach Oxford zurückschaffen, damit er dort Maud treffen kann. Ich möchte also, daß Sie morgen früh mit Professor Peddick sprechen und ihn davon überzeugen, daß er unbedingt nach Oxford zurückkehren muß, um seine Schwester und seine Nichte zu treffen. Ich kümmere mich um Terence und versuche noch mal, das Tagebuch in die Hände zu bekommen.«
»Halten Sie das für eine gute Idee?« fragte ich. »Es ist schließlich ein chaotisches System. Das heißt, Ursache und Wirkung sind nicht linear verknüpft. Vielleicht verschlimmern wir alles nur, wenn wir versuchen, die Dinge auf die richtige Reihe zu bringen. Denken Sie an die Titanic. Hätten sie nicht versucht, dem Eisberg auszuweichen, wären sie…«
»… frontal mit ihm zusammengestoßen«, vollendete Verity.
»Ja. Und das Schiff wäre zwar beschädigt worden, aber nicht gesunken. Der Versuch, auszuweichen, führte dazu, daß der Eisberg seitlich die Unterwasserschotts aufschlitzte und die Titanic wie ein Stein unterging.«
»Meinen Sie also, wir sollten es zulassen, daß Tossie und Terence sich verloben?« fragte Verity.
»Ich weiß nicht. Vielleicht sollten wir aber aufhören, sie voneinander separieren zu wollen. Terence wird schließlich merken, welch Geistes Kind Tossie wirklich ist und wieder zu Verstand kommen.«
»Möglich«, sagte Verity, nachdenklich Gebäck kauend. »Andererseits – wären auf der Titanic von Anfang an genügend Rettungsboote gewesen, hätte niemand ertrinken müssen.«
Sie trank den letzten Rest Schokolade aus und brachte Tasse und Unterteller wieder zum Nachttisch.
»Und der Schlupfverlust von 2018? Hat man herausgefunden, woher der kam?« fragte ich.
Verity schüttelte den Kopf. »Mrs. Bittner konnte sich an nichts erinnern. 2018 begann Fujisaki mit seiner Forschung über Inkonsequenzen, und man veränderte das Netz dahingehend, daß es sich automatisch schloß, wenn der Verlust zu groß wurde, aber das war im September 2018. Der Schlupfverlust trat bereits im April auf.«
Sie öffnete die Tür und lugte auf den Korridor. »Vielleicht taucht morgen früh Mr. C auf, um bei den Vorbereitungen fürs Fest zu helfen, und wir brauchen uns über nichts mehr zu sorgen«, flüsterte sie.
»Oder wir rammen einen Eisberg«, flüsterte ich zurück.
Kaum hatte Verity die Tür hinter sich geschlossen, fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, sie nach Finch zu fragen.
Ich wartete fünf Minuten, um sicherzugehen, daß Verity wohlbehalten in ihrem Zimmer angelangt war, zog dann meinen Morgenmantel an und schlich auf Zehenspitzen den Flur hinunter, wobei ich vorsichtig den in der Dunkelheit lauernden Hindernissen auswich; der Laokoon-Gruppe, deren Lage ich nachfühlen konnte, dem Farn, der Büste von Darwin und dem Schirmständer.
Leise klopfte ich an Veritys Tür.
Sie öffnete sofort. »Sie sollen doch nicht klopfen«, flüsterte sie aufgebracht und spähte ängstlich den Flur hinunter zu Mrs. Merings Zimmer.
»Entschuldigung«, sagte ich und schlüpfte ins Zimmer. Verity schloß die Tür, die ein leises Klick von sich gab. »Was wollen Sie?« flüsterte sie.
»Ich vergaß zu fragen, ob Sie herausgefunden haben, was Finch hier macht«, flüsterte ich zurück.
»Dunworthy weigerte sich, es mir zu sagen«, erwiderte Verity mit sorgenvoller Miene. »Er sagte mir das gleiche, was Finch auch Ihnen sagte: daß es sich um ein verwandtes Projekt handele. Ich glaube eher, er wurde geschickt, um Prinzessin Arjumand zu ersäufen.«
»Wie?« Ich vergaß, daß ich flüstern sollte. »Finch? Sie scherzen.«
Verity schüttelte den Kopf. »Die Gerichtsmedizinerin entzifferte inzwischen einen Hinweis auf die Katze. ›… die arme ertrunkene Prinzessin Arjumand‹, heißt es da.«
»Woher will man wissen, daß das nicht geschrieben wurde, während sie nach der Katze suchten? Und warum gerade Finch? Er könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.«
»Keine Ahnung. Vielleicht befürchteten sie, wir würden diesen Auftrag nicht ausführen, und vielleicht war Finch der einzige, der im Moment verfügbar war.«
Das klang einleuchtend, wenn man Lady Schrapnells Hang berücksichtigte, jedermann zu rekrutieren, der gerade nicht beschäftigt war. »Aber Finch!« Ich war nicht ganz überzeugt. »Und
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