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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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allmählich weniger, entfernte sich von mir. Ich setzte mich ganz vorsichtig und lautlos hin.
    Na gut. Das war sicher das Intelligenteste von allem, hier einfach sitzenzubleiben und zu warten, bis sich das Netz öffnete. Und zu hoffen, daß ich nicht wie Carruthers ewige Zeiten feststeckte.
    »Und inzwischen irrt Verity irgendwo herum!« rief ich und bereute es sofort. Die Fledermäuse flatterten erneut auf, und diesmal dauerte es gut fünf Minuten, bis sie sich wieder beruhigten.
    Ich saß still da und horchte. Entweder war dieses Verlies absolut schalldicht, oder ich befand mich nicht in einem der vergangenen drei Jahrhunderte. Seit Beginn der industriellen Revolution war die Welt nicht mehr wirklich still gewesen. Sogar das victorianische Zeitalter hatte sich mit Eisenbahnen und Dampflokomotiven herumschlagen müssen und in den Städten mit dem Rattern und Getöse des Verkehrs, das sich binnen kurzem zum dröhnenden Lärm steigern würde. Und im einundzwanzigsten und zweiundzwanzigsten Jahrhundert gab es ein stets präsentes elektronisches Hintergrundgeräusch. Hier aber, nachdem die Fledermäuse sich wieder schlafen gehängt hatten, hörte man überhaupt nichts mehr.
    Also, was nun? Wenn ich weitere Ausflüge unternahm, würde ich mich wahrscheinlich umbringen und dadurch verpassen, wie sich das Netz öffnete. Vorausgesetzt, es öffnete sich überhaupt.
    Ich suchte in meiner Tasche nach einem weiteren Streichholz und meiner Uhr. Halb nach X. Miss Warder hatte ein halbstündiges Intermittent für den Sprung nach Muchings End gesetzt, und ich war höchstens zwanzig Minuten im Labor gewesen, bei Blackwell’s vielleicht fünfzehn. Was hieß, das Netz mußte sich jeden Moment öffnen. Oder überhaupt nicht, wenn ich an Carruthers dachte.
    Und was sollte ich in der Zwischenzeit tun? Hier sitzen, in die Dunkelheit starren und mir um Verity Sorgen machen? Mir überlegen, was mit des Bischofs Vogeltränke passiert sein mochte?
    Wenn man Verity Glauben schenken wollte, brauchten sich Detektive bei ihrer Arbeit überhaupt nicht vom Fleck zu rühren oder etwas zu tun. Es reichte, wenn sie im Sessel saßen (oder einem Verlies) und das Rätsel lösten, indem sie ihre kleinen grauen Zellen benutzten. Und ich hatte mehr als ein Rätsel, falls ich mich langweilte: Wer um alles in der Welt würde des Bischofs Vogeltränke stehlen wollen? Wer war Mr. C und warum, verdammt noch mal, war er noch nicht aufgekreuzt? Worauf war Finch aus? Und was machte ich hier im tiefsten Mittelalter?
    Die Antwort auf diese Frage lag auf der Hand. Verity und ich hatten versagt, und das Kontinuum war am Zusammenbrechen. Carruthers, der in Coventry feststecke, dazu der Schlupfverlust bei den Rückkehrsprüngen, und dann Verity – ich hätte niemals zulassen dürfen, daß sie sprang. Ich hätte kapieren müssen, was im Gange war, als sich das Netz nicht öffnete. Ich hätte kapieren müssen, was im Gange war, als Tossie nicht Mr. C traf.
    Es war eine von T. J. übelsten Waterloo-Szenarios, eine Inkonsequenz, die so weitreichend war, daß das Kontinuum sie nicht mehr korrigieren konnte. »Sehen Sie«, hatte er gesagt und auf das verschwommene graue Bild gedeutet, »hier und hier sieht man rapide ansteigenden Schlupfverlust, aber das dämmt die Inkonsequenz nicht ein, und hier sehen Sie, wo das Backup versagt und das Netz zusammenzubrechen beginnt, während sich der Lauf der Geschichte verändert.«
    Der Lauf der Geschichte. Terence heiratet Tossie statt Maud, und ein anderer Pilot fliegt nach Berlin. Vielleicht kalkuliert er das Ziel falsch oder wird von der Flak getroffen oder meint, er höre den Motor stottern und fliegt darauf zurück, worauf die anderen Piloten des Geschwaders, in der Annahme, er gehorche einem Befehl, ihm folgen und wegen ihm in die Irre fliegen, genau wie die beiden deutschen Flugzeuge zwei Nächte davor. Oder das Fehlen des Enkelsohnes beeinflußt die Entwicklung der Flugzeuge oder das Aufkommen an Treibstoff in England. Oder das Wetter. Und der Luftangriff findet nie statt.
    Und die Luftwaffe rächt sich nicht, indem sie London angreift. Sie bombardiert auch nicht Coventry. Also gibt es auch kein Restaurierungsprojekt. Und keine Lady Schrapnell, die Verity zurück ins Jahr 1888 schickt. Und die Paradoxa vervielfältigen sich, bis sie eine kritische Masse erreicht haben, und das Netz bricht zusammen, setzt Carruthers in Coventry fest und schickt mich immer weiter weg vom Schuß. Und damit haben wir die Katze Kiss, die die

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