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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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saubere Lösung präsentieren können, eine, die nicht nur das Rätsel der Verblüffenden Inkonsequenz löste, sondern auch das der kleinen Prinzen im Tower sowie von Jack, dem Ripper und wer die St. Paul’s Kathedrale in die Luft jagte. Aber er war nicht hier und ebensowenig der behende Lord Peter Wimsey, und wenn sie hier gewesen wären, hätte ich ihnen die Jacken abgenommen und meine Knie damit zugedeckt.
    Irgendwann inmitten dieser Tagträumerei bemerkte ich, daß ich auf eine Veränderung in der pechschwarzen Finsternis mir gegenüber starrte, eine Unebenheit im Mörtel, was bedeutete, daß irgendwoher Licht kam.
    Ich drückte mich eng an die Mauer, aber das Licht oder vielmehr, die ganz winzige Verringerung von Finsternis vergrößerte sich weder noch flackerte sie, wie es eine Fackel getan hätte, die von unten hoch getragen wurde.
    Es war auch nicht das rotgelbe Licht einer Laterne. Es war nur ein nicht ganz so tiefes Schwarz. Und ich mußte wirklich immer noch an der Zeitkrankheit leiden, denn ich brauchte fünf Minuten, bis mir eine weitere Möglichkeit einfiel: Der Grund für die pechschwarze Finsternis konnte auch sein, daß es Nacht war, und ich mich doch in einem Turm befand. Und daß der Ausgang unten war.
    Nachdem ich mir zum zweiten Mal fast das Genick gebrochen hätte und meine Hand noch übler aussah, kapierte ich endlich, daß ich bloß eine halbe Stunde länger warten mußte, bevor ich genug sehen konnte, wo ich hintrat, und den Ausgang erreichte, ohne mich dabei umzubringen.
    Ich setzte mich auf die Stufen, lehnte den Kopf gegen die Mauer und beobachtete, wie das Grau um mich herum wuchs.
    Ich hatte den Schluß gezogen, daß Dunkelheit Verlies bedeutete, und als Konsequenz daraus hatte ich lauter falsche Folgerungen abgeleitet. War das auch eine Folge der Inkonsequenz? Stimmte eine unserer Annahmen nicht?
    Die Geschichte strotzte vor solch falschen Schlüssen -Napoleon, der annahm, Ney hätte Quatre Bas eingenommen, Hitler, der annahm, die Alliierten würden in Calais landen, König Harolds Sachsen, die annahmen, die Truppen von Wilhelm dem Eroberer zögen sich zurück, und in die Falle tappten.
    Hatten wir uns über die Inkonsequenz auch getäuscht? Gab es eine andere Sichtweise, die alles erklären konnte – vom Fehlen eines Schlupfverlustes bei Veritys Sprung angefangen bis zu seinem sprunghaften Anstieg im Jahr 2018? Eine Sichtweise, in die alles hineinpaßte – Prinzessin Arjumand, Carruthers und des Bischofs Vogeltränke, die ganzen idiotischen Wohltätigkeitsbasare und Geistlichen, von dem Hund ganz zu schweigen – eine, die alles erklärte?
    Ich mußte eingeschlafen sein, denn als ich die Augen öffnete, war es heller Tag, und Stimmen näherten sich die Treppe hoch.
    Erschrocken blickte ich mich in dem engen Turm um, als ob es dort ein Versteck gäbe, dann rannte ich die Treppe hinauf.
    Ich hatte schon mindestens fünf Stufen hinter mich gebracht, als mir einfiel, daß ich sie ja zählen mußte, damit ich das Netz wiederfand. Sechs, sieben, acht, zählte ich lautlos und bog um die nächste Kurve. Neun, zehn, elf. Lauschend blieb ich stehen.
    »Habetir deket dazdac?« fragte die Frau.
    Es klang wie Mittelenglisch, was hieß, ich war wirklich im Mittelalter.
    »Guotefrouwe Boethenneher, diu schifer nihtsin komen«, erwiderte der Mann.
    »Dazdac muoz komen diuz wohe anein end«, sagte die Frau. Der Mann darauf: »Daz wirtniht gan.«
    Zwar konnte ich die Worte nicht verstehen, aber eine solche Unterhaltung hatte ich unzählige Male zuvor gehört, unter anderem erst vor ein paar Tagen vor dem Südportal von St. Michael’s. Die Frau wollte wissen, wann etwas fertig wurde. Der Mann suchte sich rauszureden. Die Frau, offenbar eine frühe Ahnin von Lady Schrapnell, sagte, es sei ihr gleichgültig, es müsse bis zum Fest fertig sein.
    »Daz wirtniht dan, guotefrouwe Boethenneher«, sagte der Mann. »Mir habetniht man so vil.«
    »Ez mouz sin, Gruwens«, sagte die Frau.
    Man hörte, wie Stein auf Stein schlug, dann schnappte sie: »Sicht, Gruwens! Diusze steppe is komen dohin.«
    Sie schnauzte ihn wegen der losen Stufe an. Ausgezeichnet. Ich hoffte, sie machte ihm richtig die Hölle heiß.
    »Macetdaz noch hiut«, sagte sie.
    Sie stiegen immer noch höher. Ich schaute hoch zur Turmspitze und überlegte, ob weiter oben eine Plattform oder ein Türmzimmer war.
    »Wirttan noch hiut, guotefrouwe Boethenneher.«
    Botoner. War das hier vielleicht Ann Botoner oder Mary, die den Spitzturm der

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