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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Kathedrale von Coventry erbaut hatte? Und dieses hier der Turm?
    Ich stieg weiter nach oben, wobei ich versuchte, keinen Lärm zu machen und lose Stufen zu vermeiden. Neunzehn, zwanzig.
    Oben war eine Plattform, von der aus man ins Innere des Turms sehen konnte. Ich schaute hinunter. Ein offener Bereich. Der Glockenturm. Oder vielmehr, wo die Glocken gewesen wären, wenn man sie bereits aufgehängt hätte. Jetzt dämmerte es mir. Ich war im Turm der Kathedrale von Coventry, im Jahr, als er erbaut wurde. 1395.
    Ich hörte die beiden nicht mehr. Also ging ich wieder zur Treppe und versuchsweise zwei Stufen hinunter. Und prallte fast mit ihnen zusammen.
    Sie standen direkt unter mir. Ich konnte das Oberteil einer weißen Haube sehen. Ich sprang schnell auf die Brüstung zurück, rannte dann weiter die Treppe hoch und trat fast auf eine Taube.
    Sie flatterte auf, wie eine Fledermaus nach mir schlagend, dann an mir vorbei und auf die Brüstung.
    »Huosz!« rief die Dame Botoner. »Huosz! Tiufelsbruot!«
    Ich wartete, zur Flucht bereit, bemüht, nicht laut zu atmen, aber sie kamen nicht näher. Ihre Stimmen hallten eigenartig, als gingen sie zur anderen Seite der Brüstung, und nach einer Minute kroch ich wieder hinunter, damit ich sie sehen konnte.
    Der Mann trug einen braunen Kittel sowie Lederhosen und hatte einen gequälten Ausdruck im Gesicht. Gerade schüttelte er den Kopf. »Nee, guotefrouwe Marree« sagte er. »Niht vor zwi wohen«
    Mary Botoner. Neugierig betrachtete ich Bischof Bittners Urahnin, die ein rotbraunes Gewand trug, dessen Schlitze in den aufgebauschten Ärmeln ein gelbes Unterkleid zeigten und das mit einem breiten Gürtel geschlossen war, der ziemlich weit unten hing. Ihre Leinenhaube schloß sich eng um ihr rundes, nicht mehr ganz junges Gesicht, und sie erinnerte mich an jemanden. Lady Schrapnell? Mrs. Mering? Nein, jemand älteres. Mit weißem Haar?
    »Muouz sin diuz wohe!« Sie deutete über die Brüstung.
    Der Handwerker schüttelte vehement den Kopf. »Daz wirtniht gan, guotefrouwe Boethenneher.«
    Die Frau stampfte mit dem Fuß auf. »Ez muoz sin, Gruwens.« Damit wandte sie sich von der Brüstung weg zur Treppe.
    Ich duckte mich schnell, um nicht gesehen zu werden, bereit, gleich wieder aufzutauchen, aber die Unterhaltung war offenbar beendet.
    »Aber, guotefrouwe Boethenneher…« Der Handwerker folgte ihr.
    Ich kroch den beiden hinterher, immer eine Kurve über ihnen.
    »Gotimhimel kann nit…« jammerte der Handwerker.
    Ich war beinahe beim Netz.
    »Waz is diuz?« fragte die Frau.
    Vorsichtig schlich ich eine Stufe tiefer, dann noch eine, bis ich die beiden sehen konnte. Mary Botoner wies auf etwas an der Wand.
    »Auch diuz«, sagte sie, und ich sah genau über ihrem Kopf einen leichten Schimmer, gleich einem Heiligenschein.
    Nicht jetzt, dachte ich. Nicht nachdem ich eine ganze Nacht gewartet habe.
    »Aber, guotefrouwe Boethenneher…«
    »Muoz sin.« Mary Botoner stieß ihren knochigen Zeigefinger an die Wand.
    Der Schimmer verstärkte sich. Jeden Moment konnte einer der beiden hochschauen und ihn sehen.
    »Werdet sperret in!« sagte Mary Botoner.
    Komm schon, dachte ich. Sag ihr, daß du es reparierst.
    »Muoz sin hiut«, sagte sie, dann ging sie endlich weiter. Der Handwerker rollte die Augen, zog seinen Gürtel enger um seine Leibesfülle und eilte ihr nach.
    Zwei Stufen. Drei. Mary Botoners behaubter Kopf verschwand um die Kurve und tauchte dann wieder auf. »Irniht kriget lon, bis al is komen anein end.«
    Ich konnte nicht länger warten, selbst wenn das bedeutete, daß sie mich sahen. Hatten die Menschen im Mittelalter nicht an Engel geglaubt? Mit Glück hielten sie mich für einen.
    Der Schimmer wurde zum Glühen. Ich schoß die Treppe hinab, sprang über die Taube, die erschrocken aufflatterte.
    »Guotgotimhimel«, rief der Handwerker. Die beiden drehten sich zu mir um. Mary Botoner bekreuzigte sich. »Heilgemarre muoter…«
    Ich sprang mitten in das sich bereits schließende Netz und landete bäuchlings auf dem gesegneten, gefliesten Boden des Labors.

»Bestürzt und entsetzt begriffen wir, daß wir nichts weiter tun konnten.«
    Probst Howard
     
24. Kapitel
     
     
    Im Labor • Eine längst fällige Ankunft • Ein Brief an den Herausgeber • Im Turm • Ich versuche herauszufinden, wo im Raumzeitgefüge ich mich befinde • In der Kathedrale • Ich handle, ohne nachzudenken • Zigarren • Ein Drache • Eine Prozession • In der Polizeiwache • In einem Bunker •

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