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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Kathedrale. Wie Sie ja wissen, ist das Ganze jetzt ein Einkaufszentrum.«
    »Ja«, sagte er. »Ich dachte auch immer, daß es sich dazu besser eignet. Die Architektur aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ist beinahe genauso gräßlich wie die victorianische. Jedenfalls war es eine nette Geste, sie wiederaufzubauen. Und Bitty liebte sie sehr. Ursprünglich wurde sie an die Kirche des Jenseits oder so ähnlich verkauft. Sie haben sich doch sicher mit ihnen in Kontakt gesetzt, um sicherzugehen, daß sie des Bischofs Vogeltränke nicht haben?«
    Ich nickte, und dann mußte er gegangen sein, obwohl ich mich nicht daran erinnere. Ein Ton wie die Entwarnung nach einem Luftangriff hatte in meinem einen Ohr zu dröhnen begonnen, und im anderen erzählte mir jemand etwas über die dienende Rolle der Frau.
    »Frauen besaßen im victorianischen Zeitalter keine oder nur wenig Macht«, sagte die Stimme. Außer Königin Victoria, dachte ich und sah Miss Wärter mit einem feuchten Tuch auf mich zukommen. Sie rieb damit grob in meinem Gesicht herum und verrieb dann eine weiße Salbe auf meiner Oberlippe.
    »Die Rolle der Frau im victorianischen Zeitalter bestand vor allem darin, Gattin zu sein, und darin, andere zu pflegen«, sagte die Stimme. »Sie war der ›häusliche Engel‹…«
    »Berühren Sie nicht Ihre Lippe«, sagte Miss Wärter und nahm das Maßband, das sie um den Hals trug, in die Hand. »Ihre Haare müssen so bleiben. Die Zeit ist zu kurz, um sie noch zu färben.« Sie schlang das Band um meinen Kopf. »Scheiteln Sie es in der Mitte. Ich sagte, die Lippe nicht berühren.«
    »Man hielt Frauen für zu schwachbesaitet für wissenschaftliche Studien«, sagte die sublime Stimme. »Ihre Erziehung war auf Malen, Musizieren und Etikette beschränkt.«
    »Dieses ganze Vorhaben ist lächerlich.« Miss Wärter schlang das Band um meinen Hals. »Ich hätte niemals nach Oxford kommen dürfen. In Cambridge kann man einen ausgezeichneten Abschluß in Theaterrequisition machen. Ich könnte gerade Der Widerspenstigen Zähmung ausstatten, anstatt mich hier mit drei Jobs auf einmal rumzuschlagen.«
    Ich schob einen Finger zwischen das Band und meinen Adamsapfel, um zu verhindern, daß sie mich strangulierte.
    »Im victorianischen Zeitalter waren die Frauen sanftmütig, bescheiden und unterwürfig.«
    »Sie wissen, wessen Schuld das ist, nicht wahr?« Miss Wärter riß das Band wieder an sich. »Die von Lady Schrapnell. Warum, um alles in der Welt, will sie diese Kathedrale überhaupt rekonstruieren? Sie ist nicht einmal Engländerin. Sie ist Amerikanerin! Nur weil sie einen englischen Adligen geheiratet hat, gibt ihr das nicht das Recht, hier in unser Land zu kommen und unsere Kirchen wieder aufzubauen. Außerdem waren die beiden nur kurz verheiratet.«
    Sie riß meinen Arm in die Höhe und rammte mir das Band in die Achselhöhle. »Und wenn sie schon unbedingt etwas wiederaufbauen will, warum nicht etwas, das es wert ist, wie zum Beispiel das Covent Garden Theater? Warum unterstützt sie nicht die Royal Shakespeare Company? Sie brachten diese Saison nur zwei Stücke auf die Beine, und eines davon war eine altmodische Produktion von Richard II. mit nackten Darstellern aus dem Jahre 1990. Natürlich wäre es zuviel verlangt, von jemanden, der aus Hollywood kommt, so etwas wie Kunstverständnis zu erwarten! Videos! Interaktive Spiele!«
    Sie nahm rasch und nachlässig Maß an meinem Oberkörper, Armen und im Schritt, bevor sie verschwand.
    Ich ging wieder zu meinen Stühlen, lehnte meinen Kopf gegen die Wand und dachte, wie friedlich es doch sein müßte, wenn man ertränkt worden wäre.
    Die folgende Zeit bekam ich nur noch verschwommen mit. Im Ohrstöpsel wurden victorianische Tischsitten besprochen, die Entwarnung mutierte zum Signal für ›Akute Gefahr‹, und der Seraph brachte mir einen Stapel gefalteter Hosen, die ich anprobieren sollte, aber ich erinnere mich an nichts von alledem genau. Einmal schleppte Finch einen Berg Gepäckstücke herein – ein Portmanteau, eine große Reisetasche, einen kleinen Rucksack, einen Handkoffer und zwei mit Kordel verschnürte Kartons. Ich dachte, ich sollte wie bei den Hosen etwas auswählen, aber es stellte sich heraus, daß ich alles nehmen sollte. »Ich besorge noch den Rest«, sagte Finch und verschwand wieder. Der Seraph entschied sich für ein Paar weiße Flanellhosen und ging Hosenträger holen.
    »Die Austergabel liegt neben dem Suppenlöffel, die Zinken zum Teller gerichtet«,

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