Die Farben des Chaos
bisher bewohnt hatte … und ausgesprochen kahl, verglichen mit Leyladins Haus. Zwei mit Läden gesicherte Fenster, ein breiter Schreibtisch, ein gepolsterter Lehnstuhl, ein großes Bett mit Leinenlaken und einer roten Wolldecke … sogar ein Läufer lag vor dem Bett, außerdem gab es einen Kleiderschrank aus weißer Eiche und ein Bücherregal, das neben dem Schreibtisch an der Wand stand.
Er schloss die Tür hinter sich. Kinowins Empfehlung, neue Fähigkeiten zu entwickeln, ging ihm nicht aus dem Sinn. Welche Fähigkeiten mochten das sein? Er ging zum Bücherregal, nahm sein abgegriffenes Exemplar von den Farben der Weiße heraus und blätterte zur zweiten Hälfte des Buches vor. Er las langsam, überschlug die Abschnitte, die er schon so oft gelesen hatte, dass er sie auswendig kannte, und versuchte, die Textstellen zu finden, die er nicht gründlich studiert hatte, weil sie ihn beim flüchtigen Lesen gelangweilt hatten. Schließlich setzte er sich, ohne die Jacke ausgezogen zu haben, auf den Stuhl.
In jeglicher Substanz auf der Welt finden sich Chaos und Ordnung. Oft sind sie so dicht miteinander verwoben, dass niemand, und sei es der größte Magier, sie entwirren könnte. Doch würden sie entwirrt, dann wäre das Chaos unendlich. Denn die Welt besteht aus Chaos, und alle Stoffe dieser Welt sind nichts weiter als Chaos, das von der Ordnung in eine feste Form gefügt wurde …
Cerryl runzelte die Stirn. Wenn er die Worte richtig verstand, dann meinte der Schreiber, dass alles, sogar das Buch, in dem er gerade las, nichts weiter war als Chaos, das durch Ordnungs-Kräfte in seine Form gebracht worden war.
Er kratzte sich am Kopf. Aber das Licht bestand aus beinahe reinem Chaos – so rein jedenfalls, wie es für lebendige Wesen überhaupt erträglich war. Ein herzhaftes Gähnen unterbrach seine Konzentration. Der Morgen würde früh kommen, viel zu früh. Er legte das Buch weg, zog sich aus und hängte die Kleider sorgfältig auf.
Eine Weile lag er noch wach in seinem bequemen großen Bett und ließ sich durch den Kopf gehen, was er in den Farben der Weiße gelesen hatte, »… würden sie entwirrt, dann wäre das Chaos unendlich … würden sie entwirrt …«
Der nächste Morgen würde in der Tat schon bald kommen, aber er konnte sich auf den Tag danach freuen. An jedem vierten Tag hatte er frei und musste nicht vor Sonnenaufgang zum Klang der Glocken aufstehen.
VII
C erryl stand im Eingang des fast menschenleeren Speisesaals. Es war beinahe schon zu spät, um noch etwas zu essen zu bekommen. Schließlich ging er zur Auslage, nahm sich ein großes Stück Brot und etwas Kirschkonfitüre, die dick und zäh war wie Sirup, dazu einen verdächtig weichen Birnapfel.
Als er sich umdrehte, winkte ihm Esaak, der weiter hinten saß. Cerryl erschrak. Wollte ihn der ältere Magier zur Rede stellen, weil seine mathematischen Fähigkeiten zu wünschen übrig ließen? Cerryl ging mit seinem Teller und einem Becher Wasser zu dem schwerfälligen, fast kahlköpfigen Magier hinüber.
»Junger Cerryl …« Esaak schüttelte den Kopf. »Ihr seid in der ganzen Geschichte der Gilde einer der schlechtesten Mathematiker, die es je gegeben hat.«
»Ich lese aber immer noch in den Büchern, Ser.«
»Und Ihr löst die Aufgaben?«
»Nur ein paar«, gestand Cerryl.
Esaak lachte. »Nicht alle Magier können Ingenieure oder Mathematiker sein. Solange Ihr keine Aquädukte oder Abwasserkanäle baut, ist es nicht so wichtig.« Die tief liegenden Augen richteten sich auf den jungen Mann. »Habt Ihr Euch schon überlegt, ich welche Richtung Ihr nun wollt? Ihr kommt mir nicht so vor, als wolltet Ihr Euer ganzes Leben mit der Torwache verbringen und zum Waffen-Magier scheint Ihr mir auch nicht geeignet. Nein, das dürfte in den nächsten Jahren nicht in Frage kommen.«
Das Licht studieren … »Ich weiß nicht. Mir ist eigentlich noch gar nicht klar, welche Wahlmöglichkeiten mir überhaupt offen stehen. Ich weiß, dass Myral sich vor allem mit Wasser und Abwasserleitungen beschäftigt. Kinowin kümmert sich um den Handel, ihr lehrt die Mathematik …«
»Wer hat Kinowin etwas über den Handel gelehrt, junger Cerryl? Ich habe schon in Lydiar und Renklaar beim Löschen von Schiffen zugesehen, als Kinowin noch nicht einmal geboren war.«
»Es tut mir Leid.«
»Nein, Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Wenn Ihr Euer Leben nicht damit verbringen wollt, Bewaffnete und Lanzenreiter zu begleiten, müsst Ihr eine Fähigkeit
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