Die Farben des Chaos
entwickeln, die für die Gilde wertvoll ist. Jeslek … er hat die Tiefen der Erde studiert. Was glaubt Ihr, woher er weiß, wie man Berge wachsen lässt?«
»Ich habe ihm zugeschaut, aber solche Macht besitze ich nicht …«
»Vergesst nicht«, Esaak hob warnend die Hand, »vergesst nicht, dass es eine nützliche und zugleich sinnvolle Fähigkeit sein muss. Denkt in Ruhe darüber nach. Ihr habt Zeit, aber verschwendet Eure Zeit nicht.«
Esaak stand mühsam auf. »Ich muss jetzt wieder einen ungebildeten Lehrling unterweisen, der glaubt, Zahlen seien nur gut, um Münzen zu zählen. Guten Tag auch, junger Cerryl.«
»Guten Tag, Ser.« Cerryl wartete, bis der ältere Magier den Saal verlassen hatte, eher er sich an den runden Tisch in der Mitte setzte. Abgesehen von den rot uniformierten Burschen, die hier bedienten, war der Saal verlassen.
Er aß rasch, seine Gedanken rasten. Licht … wie kann man das Licht, abgesehen vom Töten, sinnvoll einsetzen? Nein, es war wirklich keine gute Idee, die Gilde über seine Fähigkeit, was den Umgang mit Lichtlanzen oder Chaos-Dolchen anging, ins Bild zu setzen. Womöglich war es sogar gefährlich. Seine letzten Erfahrungen mit Anya und Jeslek hatten ihm verdeutlicht, dass er dank der ungeschriebenen und niemals offen ausgesprochenen Regeln für die Machtkämpfe in der Gilde weitaus bessere Überlebenschancen hatte, wenn er niemanden wissen ließ, welche Fähigkeiten er besaß.
Doch wenn er alles für sich behielt, lief er womöglich Gefahr, sein Leben lang am Tor zu stehen. Genau dies hatte Esaak ihm für den Fall prophezeit, dass es ihm nicht gelang, eine nützliche Fähigkeit zu entwickeln. Also ging es um die Frage, wie viel er durchblicken ließ und auf welche Weise er es am besten präsentierte. Welche Fähigkeit, die sinnvoll genug war, konnte er gefahrlos offenbaren?
Als er aufgegessen hatte, verließ er den Speisesaal und wanderte durch den Flur. Unterwegs warf er einen Blick ins Gemeinschaftszimmer der Schüler, wo auch er früher studiert hatte. Der Raum war leer bis auf den ziegenbärtigen Bealtur, der kurz den Kopf hob, Cerryl ein höfliches Lächeln schenkte und sich sogleich wieder in den Wälzer vertiefte, der vor ihm lag.
Bealtur war völlig sicher gewesen, noch vor Cerryl zum Voll-Magier bestellt zu werden, doch es war ihm nicht gelungen. Auch Kesrik hatte sich Hoffnungen gemacht, bevor man ihn benutzt hatte, um Cerryl zu einem schrecklichen Fehler zu verleiten. Doch Kesrik war ertappt und vom Erzmagier zu Asche verbrannt worden. Allerdings … Cerryl wusste zwar sehr genau, dass Kesrik versucht hatte, ihn zu vergiften, aber er wusste auch, dass es die als Kesrik verkleidete Anya gewesen war, die ihn von Räubern hatte angreifen lassen, als er in den Abwasserkanälen gearbeitet hatte. Cerryl wusste immer noch nicht, warum die rothaarige Magierin es überhaupt getan hatte, aber er beobachtete sie genau und ging ihr so weit wie möglich aus dem Weg.
Was sonst hätte er tun sollen? Die meisten Magier wurden durch die Tatsache in ihre Schranken verwiesen, dass der Erzmagier, die beiden Obermagier und einige andere eine Fähigkeit besaßen, die als ›wahrlesen‹ bezeichnet wurde. Sie spürten es, wenn jemand nicht ehrlich war, und konnten Intrigen frühzeitig aufdecken. Aber Anya stand unter Jesleks Schutz und Jeslek war nicht nur Obermagier, sondern auch einer der mächtigsten Chaos-Bändiger seit Jahrhunderten. Solange er keine weiteren Chaos-Fähigkeiten entwickelt hatte, bestand Cerryls bester Schutz darin, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Aber es war nicht leicht, neue Fähigkeiten zu entwickeln und für sich zu behalten.
Er ging über den Hof zur letzten Halle mit den kleinsten Zimmern und lief die Treppe zu seinem Quartier hinauf, das ganz hinten lag. Drinnen holte er tief Luft und zog Die Farben der Weiße aus dem Bücherregal. Vielleicht würde er in dem Buch ein paar Anregungen finden, nachdem er so lange gegrübelt hatte.
Vielleicht …
VIII
C erryl ging zwischen der Haupthalle und der hinteren Halle am Springbrunnen vorbei. Die Füße taten ihm weh und in seinem Kopf pochte es – Ersteres, weil er tagsüber ständig hinter der Brustwehr des Wachhauses auf und ab gegangen war, Letzteres, weil er die Anwendung des Lichtschildes, der ihn unsichtbar machte, geübt und sich dabei überanstrengt hatte. Kinowins Fragen waren eher oberflächlich gewesen, als sei der Obermagier in Gedanken woanders, und Cerryl hatte seine
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