Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)
erkenne.
»Wenn es heißt, dass Prometheus den Menschen in einem Stängel des Riesenfenchels das Feuer brachte, muss meiner Meinung nach von John Blacklock die Rede gewesen sein, Madam«, sagt er. Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Die meisten Trauernden haben sich bereits zerstreut und sind zu ihrem Leben und ihren Beschäftigungen zurückgekehrt, doch am Tor steht noch eine Gruppe Menschen, die sich unterhalten. Ihre blassen Gesichter blicken ab und zu in meine Richtung.
»Er war ein brillanter Mann, ein Denker. Ohne ihn ist London ärmer geworden«, sagt Mr. Torré. Er nimmt seine Frau am Arm und wendet sich zum Gehen.
»Es wäre mir eine Freude, Ihnen mit meinem Rat dienen zu können. Lassen Sie mich wissen, was ich für Sie tun kann, wenn Sie so weit sind.« Über seine Freundlichkeit muss ich wehmütig unter Tränen lächeln, denn ich kann beinahe John Blacklocks Stimme hören, der dagegenhält, dass es diesen Mann immer schon gejuckt hat, sein Geschäft in die Hände zu bekommen.
Am Friedhofstor werfe ich noch einmal einen Blick zurück auf den alten Mann, der unter der Last des vollgeladenen Spatens stöhnt, und auf die Lücke zwischen den Grabsteinen, wo jetzt John Blacklock ruht. Es geht ein leichter Wind, und ich sehe, dass man von den Gräbern aus eine gute Sicht auf den Himmel hat.
Es gibt keinen Leichenschmaus.
40
Liebste Ann,
bitte komm unverzüglich zu mir. Es gibt so viel zu erzählen. Mein Ehemann ist tot, und ich stehe kurz vor dem Wochenbett. Ich werde dir die Reisekosten bei deiner Ankunft in London erstatten. Verzeih mir die Eile.
Ich bin völlig verblüfft, als Mrs. Spicer vorschlägt, »mit besten Grüßen, Agnes Blacklock« zu schreiben, und diesen Vorschlag auch gleich in die Tat umsetzt. Ich betrachte meinen neuen Namen, wie er da auf dem Blatt steht. Mrs. Spicers Hand zittert ein wenig, weil sie unter leichten Lähmungserscheinungen leidet, und kleine schwarze Flecken sprenkeln die Seite.
»Ist auch alles sehr außergewöhnlich«, sagt Mrs. Spicer, während sie ihr Werk bewundert und Sand über den Brief streut, um die überschüssige Tinte aufzunehmen. »Natürlich mangelt es nicht an Klatsch und Tratsch, aber ich hab für so was keine Zeit.« Sie lächelt mich freundlich an, beugt sich vor und legt ihre zitternde Hand kurz auf meine Hand.
Dann faltet sie das Blatt, bis es klein und rechteckig ist. Die Adresse meiner Schwester im Wiston House steht darauf, und die Ränder sind mit einem Wachssiegel verschlossen. Ich bin erschüttert, als der Brief fertig ist, weil darin die Tatsachen so unverblümt offengelegt sind. Es ist kein selbstsüchtiger Brief. Ich glaube, dass mein Vorschlag gut für Ann ist.
»Die Postgebühr beträgt drei Pence«, sagt Mrs. Spicer geduldig und wartet, bis ich wieder zu Sinnen komme und den Laden verlasse.
* * *
Ich stelle fest, dass sich in meine Benommenheit auch eine Art merkwürdiger, unangebrachter Zorn mischt. Ich habe kein Recht, zornig zu sein, sage ich mir. Ich versuche mich davon zu überzeugen, dass diese Undankbarkeit sinnlos ist, aber ich verstehe einfach nicht, warum er das getan hat. Ich bin wütend, weil er tot ist, weil er das gemacht hat und mir nichts davon gesagt hat, mich nicht gefragt hat. Warum hat er nicht nach mir gerufen, statt zu sterben? Warum ist er gestorben, obwohl wir gemeinsam noch so viel Arbeit vor uns hatten?
Vermutlich gab es einen Punkt, an dem sich das Leben hätte anders entwickeln können.
Ich glaube nicht, dass ich John Blacklock geliebt habe. Ich weiß gar nicht, wie es ist zu lieben. Ich weiß nicht, was es war, was John Blacklock für mich empfunden hat. Und doch habe ich das Gefühl, dass es etwas gab, bei dem wir noch nicht angekommen waren, was noch nicht ausgeformt war, noch unausgesprochen und unfertig. Dieses Etwas, diese ungeformte Liebe ist noch in mir drin. Es ist eine Art strahlende, glücklose Wärme, die langsam im Laufe der Jahre abklingen wird – vielleicht aber auch nicht.
Im Moment bin ich so traurig, dass ich die Traurigkeit im Mund schmecke. Wenn ich atme, atme ich den Geruch der Traurigkeit ein.
* * *
Mary Spurren sieht mich nur an, als ich ihr erzähle, dass ich verheiratet bin und mit wem. »Du bist nicht überrascht«, sage ich. Sie blinzelt.
»Ich finde eigentlich nichts überraschend«, erwidert sie. »Nur manchmal habe ich ein Gefühl, das meine arme Mutter Verwirrung nannte.« Sie seufzt. »Außerdem hab ich es gewusst. Ich wusste es von Anfang an. Er
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