Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)
mehr!‹« Ann kichert. »Er war ganz durcheinander, weil er nicht wusste, ob das ihr voller Ernst war.«
»Aber sieh dich an, sieh dich an!«, sagt sie, nimmt meine Hand und reibt sie. In ihren Augen glitzern Tränen im Kerzenschein. »Lil hat erzählt, Vater war zu wütend, um zu sprechen, als du verschwunden bist. Den ganzen Dezember lang hat er kaum ein Wort gesagt, nicht mal wenn ich an meinem halben freien Tag aus Wiston gekommen bin. Viel später ist dein Bruder Ab den ganzen Weg nach London gereist, um nach dir zu suchen. Er hat überall rumgefragt, aber er ist mit leeren Händen zurückgekommen. Sie haben gesagt, es hätte Vater fast das Herz gebrochen, so sehr vermisste er dich. Und die alte Mrs. Mellin ist gestorben!«, ruft sie aus. »Ungefähr um die Zeit, als du gegangen bist, hat man die Leiche eines Hausierers gefunden. Ganz verdreht lag sie auf dem Weg vor Mrs. Mellins Cottage. Er war an einem Schlag auf den Kopf gestorben, sei ein furchtbarer Anblick gewesen, haben die Leute gesagt. Auf dem schlammigen Weg gab es Anzeichen für eine Rauferei, und seine Stoffballen waren abgerollt und flatterten um ihn herum. Man dachte, dass er wegen der Goldmünzen überfallen worden sei, die er anscheinend bei sich gehabt hat, denn die waren wohl aus Mrs. Mellins Cottage verschwunden. Bei seiner Leiche war kein Gold, natürlich, also wie hätte man das beweisen können? Das haben wir jedenfalls gesagt, als wir es hörten, man weiß ja, wie knauserig sie war. Dann stellt sich aber heraus, dass sie wohl einen kleinen Schatz gehortet hat. Das sagt Amos Cupper, der ihren Mann gut gekannt hatte, als er noch lebte. Allerdings haben einige Leute gesagt, dass Amos Cupper plötzlich einen neuen Mantel aus gutem Wollstoff anhatte. Den hab ich aber noch nicht gesehen.«
Ich kann mich nicht erinnern, wer Amos Cupper ist, sage das aber nicht. In meinem Kopf gibt es nur einen Gedanken: Das Unglück des Hausierers bedeutet, dass nie jemand wegen des Diebstahls von Mrs. Mellins Geld mit dem Finger auf mich zeigen wird.
»Was ist?« Ann hat aufgehört zu reden und sieht mich an. »Bist du überrascht, dass in der kurzen Zeit so viel geschehen ist? Ich dachte, du würdest es bedauern, das alles verpasst zu haben!« Sie lacht.
»Und das Gemeindeland!«, sagt Ann, und sofort höre ich ihr aufmerksam zu. »Das mit Sträuchern bewachsene Gemeindeland wird bleiben. William treibt jeden Tag ein großes, fettes Mastschwein dorthin, das mit seinem Rüssel Wurzeln und die weißen Knollen von Platterbsen ausgräbt. Ein richtig fettes Schwein. William sucht sich ein geschütztes Plätzchen und hält in der Sonne ein Nickerchen. Wenn er nach Hause kommt, hat er überall Ginsterästchen und Moos. Es ist so ein großes Schwein.«
Ann kann nicht aufhören zu reden.
Und dann kommt eine weitere Wehe, und ich schließe die Augen. Eine Woge von Schmerz rollt über mich hinweg, sie steigt und steigt wie eine Springflut. Jetzt gibt es nichts mehr außer dem Anschwellen des Wassers. Dann fließt es ab, und mir fällt ein, dass ich wieder atmen muss.
Alles ist ruhig.
Die alte Frau, die meine Hebamme ist, setzt sich auf den knarrenden Stuhl neben meinem Bett in Mr. Blacklocks Kammer. Sie nimmt einen Schluck aus einem Krug. Als sie versucht, mir Brandy einzuflößen, wende ich den Kopf ab, denn die nächste Wehe kündigt sich an. Ich kann es nicht ertragen, dass der Krug meine Lippen berührt.
Die ganze Nacht hindurch sagt mir Ann immer wieder, dass ich keine Angst haben soll, aber ich habe keine, und sie muss das nicht sagen. Sanft streichelt sie mir die Stirn und die Hand. Sie legt mir ein feuchtes Tuch über die Lippen, die heiß und trocken sind. Die Wehen kommen in kürzeren Abständen und werden heftiger. Ich schreie halblaut auf. Ich darf nicht lauter schreien – ich muss meine Kräfte aufsparen. Wenn ich die Augen zumache, ist der Schmerz ein Ding, das von innen drückt, ein Ding aus Kalk und Kiesel und den mineralischen Knochen der Erde, aus der wir alle gemacht sind, umgeben von unserem Fleisch. Und der Schmerz ist das Gewicht der Erde auf mir, der Erde, die aus Körpern besteht, unseren Körpern, meinem Körper, der mich aufpresst. So vergeht Stunde um Stunde, und die Abstände zwischen den Wehen werden kürzer. Knochen. Stunden.
* * *
»Es kommt, das Köpfchen kommt, da ist es!«, rufen sie.
Es drängt aus meinem Körper heraus, es ist beinahe frei. Es könnte alles Mögliche sein, ein Geschöpf, das draußen auf dem Feld
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