Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)
Schultern, als wollte ich zu verstehen geben, dass ich mit seiner Haltung einverstanden war. Mögen alle, die es angeht, mir vergeben. Diese Unwahrheiten müssen sein.
»Ich erinnere mich daran, dass er eine Tante hatte«, räumt Mrs. Spicer ein und wischt sich die öligen Finger an der Schürze ab. »Mehr als einmal hat er mich damit beauftragt, eine Kiste Orangen zum Verschicken einzupacken, oder auch mal Rheinwein. Was für ein aufmerksamer Neffe, habe ich immer gedacht, der seiner alten Tante Geschenke schickt, um sie aufzuheitern und ihr Herz in der Dunkelheit des Winters zu erhellen. Wie einsam die Tage im Alter sein können, und wie lang!«
»Und dabei ging es die ganze Zeit nur um Geld. Aber trotzdem, so was wie eine Ehe geheim zu halten!« Sie schüttelt den Kopf. »Ich hab ihn nicht für einen so habgierigen Mann gehalten, der materielle Dinge über wichtige Herzensangelegenheiten stellt. Über Dinge des Anstands.«
Doch dann hellt sich ihr Gesicht auf, und sie wirft einen erleichterten Blick auf meinen Bauch.
»Aber natürlich, ich vergesse, dass er an die Zukunft seines Kindes denken musste! An seinen Nachkommen. Ich wage zu sagen, dass er die Tatsachen nicht um seiner selbst willen verschleiert hat, sondern er hat sie in Kauf genommen, seines Kindes wegen. Wie nobel von ihm – und wie vorausschauend!«
»Er war ein ehrenhafter Mann«, sage ich.
»Selbstverständlich war er das«, sagt sie. »Es gibt viel Gerede. Ich muss sagen, ich kümmere mich nicht darum.« Sie schüttelt den Kopf. »Bezahlen Sie doch am Ende des Monats gegen Rechnung, wenn Sie Ihre Angelegenheiten geregelt haben. Das Klatschen und Tratschen wird vorübergehen, Mrs. Blacklock, wie ein Sommerschauer. Bald genug wird es andere Dinge geben, über die sie sich das Maul zerreißen, wenn das Leben eines anderen Menschen eine überraschende Wendung nimmt oder etwas Ungewöhnliches geschieht. Ich würde mir an Ihrer Stelle nicht zu viele Gedanken darüber machen.« Sie legt ein weiteres Päckchen auf die Theke. »Das ist ein kleiner Leckerbissen für Sie. Nennen wir es ein Geschenk, um Ihre Kräfte zu stärken.« Mitfühlend legt sie die Stirn in Falten. »Sie müssen versprechen, dass Sie es essen werden, ja? Kuchen ist gut für Sie.«
»Sie sind eine freundliche Frau, Mrs. Spicer«, sage ich im Hinausgehen. Sie hat nicht angedeutet, dass es vielleicht weiser gewesen wäre, das Eheleben ein wenig zu genießen, bevor seine Zeit in dieser Welt vorüber war. Natürlich nicht. Niemand kann in die Zukunft sehen. Wenn wir das könnten, wie anders würden wir uns verhalten!
42
Bis zu meiner Niederkunft können es nur noch wenige Tage sein. Das Kind in mir ist riesig und strampelt jetzt nicht mehr häufig, weil es zu eng dort drin ist. Wie ich scheint es einfach zu warten.
In der Küche ist es still heute Morgen. Der Tee, den ich gerade gekocht habe, steht im Kessel neben dem Herd und dampft ein bisschen, während er zieht. Ich sehe mich um. Meine Küche, mein Haus, denke ich, aber das scheint kaum möglich. Ich berühre die Gegenstände auf dem Tisch, einen Löffel, die beiden Schalen, die für das Frühstück bereitstehen. Ich schenke Tee ein, blase sanft darüber und trinke ein Schlückchen. Dann drehe ich mich zu der hohen Anrichte um, und mein Blick fällt auf den Stapel mit Mrs. Blights Broschüren. Ich blättere sie durch und lese einige Titel: »Die letzten Worte der zum Tode Verurteilten«, »Gerichtsfälle am Old Bailey«, »Berichte des Ordinary of Newgate«.
Ich erinnere mich an die Unterhaltung mit Mrs. Blight vor einem Monat. An jenem Abend hatte sie mir geraten, die Broschüren zu lesen, um die böse Welt dort draußen besser zu begreifen.
»Wer ist der Ordinary?«, hatte ich gefragt.
»Der Gefängnisgeistliche«, hatte Mrs. Blight erklärt und sich sofort für ihr Lieblingsthema erwärmt. »Seine Aufgabe ist es, den zum Tode Verurteilten geistlichen Beistand zu leisten. Seine Vergütung besteht in dem Recht, ihre letzte Beichte auf dem Weg zum Galgen zu veröffentlichen und von ihrem Leben zu berichten. Mir gefallen die Berichte des Ordinarius am besten«, hatte sie gesagt und in Richtung der Broschüre in meiner Hand genickt, »denn sie geben den Unglücklichen eine kleine Chance, die Dinge aus ihrer Sicht darzustellen.«
Mir fällt auf, dass einige Broschüren schon mehrere Jahre alt sind. Sie sammelt sie schon lange. Müßig durchblättere ich die vergilbenden Seiten. Aber das Heft hier zum Beispiel, das ich
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