Die Farm am Eukalyptushain
großes Glück.«
»Ich habe so etwas immer nur getan, wenn ich mit meinem Dad zusammen war.« Harriet goss Limonade aus der Flasche in zwei Blechbecher und reichte Rosa einen davon. Das Hühnchensalat-Sandwich hatte besser geschmeckt als alles, was es in der Großstadt gab. Wahrscheinlich lag es an der frischen Luft und dem Rausch des Reitens. Sie schluckte den letzten Bissen herunter und wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab – ein Benehmen, das ihre Mutter mit Entsetzen erfüllt hätte. »Mum hat’s andauernd mit der Sauberkeit und dem guten Benehmen. Wenn sie zu Hause ist, muss ich immerzu schreckliche Rüschenkleider tragen, auf denen man jeden Flecken sieht.« Sie kicherte. »Als ich ganz klein war, hat sie mich immer an Schönheitswettbewerben teilnehmen lassen – aufgetakelt wie eine Puppe, geschminkt, das ganze Programm. Ich hab’s gehasst, vor die Preisrichter zu treten; also habe ich immer Fratzen geschnitten und mich schlecht benommen. Mum war wütend, aber sie konnte nichts dagegen tun.«
»Arme alte Hat!«, sagte Rosa mitfühlend. »Muss die Hölle gewesen sein.«
»Es war okay, solange Dad lebte. Er hat sich immer auf meine Seite gestellt. Aber dann …« Harriet schluckte. »Dann hat es sich geändert«, fuhr sie fort. »Es ist wirklich schwer ohne ihn, und als Mum begriffen hatte, dass ich niemals eine Tänzerin wie sie werde, hat sie mich irgendwie aufgegeben.«
»Dann bin ich froh, dass wir Freundinnen sind.« Rosa lächelte warmherzig. »Du kannst in den Ferien immer herkommen. Das hat Mum heute Morgen gesagt.«
Harriet erwiderte das Lächeln; sie war gerührt von der Großzügigkeit und Freundschaft, die sie während ihres Aufenthalts hier empfangen hatte. »Danke«, sagte sie. Was sie wirklich empfand, konnte sie nicht in Worte fassen.
Rosa zuckte die Achseln. »Nicht nötig, Hat. Wenn Mum nicht gewesen wäre – ich weiß nicht, was aus mir und Connor geworden wäre. Ich bin froh, dass ich das mit dir teilen kann.«
Harriet war am Rande der Tränen. Noch nie hatte sie solche Güte erlebt, eine so großzügige Freundschaft. Es war ein bewegender Augenblick. Als sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle gebracht hatte, drehte sie sich auf den Rücken und atmete die warme Luft ein, die nach Akazienblüten, Kiefern und Eukalyptus duftete. Sie fühlte sich schläfrig und zufrieden. Sie hörte das Sägen der Zikaden in den Bäumen, und in der Nähe lachte ein Kookaburra. Es war einsam hier; Sydney, die Schule und ihre Mutter waren eine Million Meilen weit weg. Wenn es doch nur so bleiben könnte!, dachte sie wehmütig. Aber das war natürlich unmöglich.
Seufzend schloss Harriet die Augen. Auf Belvedere hatte sie ein anderes Leben kennen gelernt. Catriona hatte viele Stunden mit ihr und Rosa verbracht; sie hatte Picknicks organisiert und war mit ihnen im Billabong geschwommen, sie hatte ihnen Geschichten erzählt und die Mädchen dazu ermuntert, umherzustromern und zu tun, was ihnen Spaß machte. Es war weit entfernt von ihrem geordneten, aber eingeschränkten Dasein in Sydney, wo von ihrerwartet wurde, dass sie sich stets höflich und wohlerzogen benahm. Rosa hatte mehr Glück, als sie ahnen konnte, und trotzdem empfand Harriet keinen Neid – denn wie hätte sie es tun können, wenn Rosa ihr so vorbehaltlos anbot, das alles mit ihr zu teilen?
Harriets Mutter vertrat beharrlich die Ansicht, Kinder solle man sehen, aber nicht hören, und diese Lektion hatte Harriet schon sehr früh gelernt. Den größten Teil ihrer Kindheit hatte sie in Internaten verbracht. Wenn sie in den Ferien für kurze Zeit mit ihrer Mutter zusammen gewesen war, hatte diese von ihr erwartet, dass sie sich ihrem verbissenen Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg unterordnete. So hatte Harriet an Partys und an Wochenenden mit Leuten, die sie kaum kannte und nicht mochte, um des lieben Friedens willen klaglos teilgenommen, denn Jeanette Wilsons Ehrgeiz kam man tunlichst nicht in die Quere.
Die Schule bot ihr eine Möglichkeit der Flucht vor der Enge des adretten Apartments in der Stadt, vor den erstickenden Regeln und Vorschriften, an die sie sich zu halten hatte, seit sie denken konnte. Als Vater noch da gewesen war, war alles ein bisschen leichter gewesen. Harriet vermisste ihn schmerzlich. Dad hatte trotz seines engen Terminkalenders immer Zeit gefunden, an den Elterntagen in die Schule zu kommen, sich für ihre Erfolge zu interessieren und sie zu trösten, wenn sie gescheitert war. Er war ihr bester
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