Die Farm
ich.
Wir kehrten gemächlich zum Haus zurück. Zuerst sprachen wir nicht, aber auf halbem Weg fragte sie: »Du hast mir zugesehen, stimmt’s, Luke?« Ihre Stimme klang fröhlich und spielerisch, und ich wollte nicht lügen.
»Ja«, sagte ich.
»Ist schon in Ordnung. Ich bin nicht böse.«
»Nein?«
»Nein. Wahrscheinlich ist es nur natürlich, dass Jungs Mädchen anschauen wollen.«
Es erschien mir nur allzu natürlich. Mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können.
Sie fuhr fort: »Wenn du das nächste Mal mit mir zum Fluss gehst und aufpasst, dass niemand kommt, kannst du es wieder tun.«
»Was kann ich wieder tun?«
»Mir zusehen.«
»Okay«, sagte ich etwas zu rasch.
»Aber du darfst es niemandem erzählen.«
»Werd ich nicht.«
* * *
Abends stocherte ich in meinem Essen herum und versuchte mich zu verhalten, als wäre nichts geschehen. Aber ich hatte noch immer Schmetterlinge im Bauch und Schwierigkeiten, etwas zu essen. Ich sah Tally so deutlich vor mir, als befänden wir uns noch am Bach.
Ich hatte etwas Schreckliches getan. Und konnte es nicht erwarten, es wieder zu tun.
»Woran denkst du, Luke?«, fragte Gran.
»Nichts Besonderes«, sagte ich, aber ich war zurück in der Wirklichkeit.
»Komm schon«, sagte Pappy. »Etwas beschäftigt dich.«
Da fiel mir etwas ein. »Das Klappmesser«, sagte ich.
Alle vier Erwachsenen schüttelten missbilligend den Kopf.
»Denk an was Schönes«, sagte Gran.
Keine Sorge, dachte ich. Keine Sorge.
A uch diesen Sonntag beherrschte der Tod unseren Gottesdienst. Mrs Letha Haley Dockery war eine große laute Frau, deren Mann sie vor vielen Jahren verlassen hatte und nach Kalifornien geflohen war. Wie zu erwarten, waren ein paar Gerüchte in Umlauf hinsichtlich dessen, was er tat, sobald er dort eingetroffen war, und das beliebteste, das ich mehrmals hörte, lautete, dass er sich mit einer jüngeren Frau einer anderen Rasse eingelassen hatte - möglicherweise einer Chinesin, aber das konnte wie so viele Gerüchte in Black Oak nie bestätigt werden. Wer von uns war schon in Kalifornien gewesen?
Mrs Dockery hatte zwei Söhne großgezogen, von denen sich keiner irgendwie auszeichnete, die jedoch immerhin über so viel gesunden Menschenverstand verfügten, um die Baumwollfelder zu verlassen. Einer lebte in Memphis; der andere im Westen, wo immer das genau war.
Andere Verwandte von ihr lebten im Nordosten von Arkansas, insbesondere eine entfernte Cousine in Paragould, zwanzig Meilen weit weg. Eine sehr entfernte Cousine laut Pappy, der Mrs Dockery nicht ausstehen konnte. Diese Cousine in Paragould hatte einen Sohn, der ebenfalls in Korea kämpfte.
Wenn in unserer Kirche für Ricky gebetet wurde, was leider immer der Fall war, zögerte Mrs Dockery keinen Augenblick und erinnerte die Gemeinde, dass auch eins ihrer Familienmitglieder in den Krieg gezogen war. Sie passte Gran ab und unterhielt sich mit ihr flüsternd und mit ernster Miene, wie belastend es wäre, auf Neuigkeiten von der Front zu warten. Pappy sprach mit niemandem über den Krieg und hatte Mrs Dockery bei einem
früheren Versuch, ihm ihr Mitgefühl auszudrücken, barsch zurückgewiesen. Als Familie versuchten wir einfach zu ignorieren, was in Korea geschah, zumindest in der Öffentlichkeit.
Monate zuvor hatte jemand Mrs Dockery, als sie wieder einmal um Anteilnahme bat, gefragt, ob sie ein Foto von ihrem Neffen habe. In der Kirche hatten wir so oft für ihn gebetet, dass die Leute wissen wollten, wie er aussah. Es war ihr überaus peinlich, als sie keins vorweisen konnte.
Als er nach Korea aufbrach, hieß er Jimmy Nance und war der Sohn ihrer vierten Cousine - einer »sehr nahen Cousine«. Im Lauf des Krieges wurde er zu Timmy Nance und wandelte sich von einem Neffen zu einem Cousin zweiten oder dritten Grades. Wir brachten es nicht auf die Reihe. Und obwohl sie den Namen Timmy vorzog, schlich sich bisweilen Jimmy ins Gespräch.
Wie immer er tatsächlich hieß, er war gefallen. Wir erfuhren es, noch bevor wir an diesem Sonntag aus dem Pick-up steigen konnten.
Sie war im Gemeindesaal, umgeben von Frauen aus ihrer Sonntagsschulklasse, die alle heulten und jammerten. Ich sah aus der Ferne zu, wie sich Gran und meine Mutter einreihten, um sie zu trösten, und mir tat Mrs Dockery aufrichtig Leid.
Wie nah oder entfernt die Verwandtschaft auch sein mochte, die Frau litt große Seelenqualen.
Flüsternd wurden Einzelheiten genannt: Er war im Jeep seines Kommandanten auf eine Landmine gefahren.
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