Die Fastnachtsbeichte
Schande eines schlechten, unehrlichen Lebens... Soll ich den falschen
Schein bestehen lassen, daß nur die armen Leute unehrlich sind? Er war mein
Sohn —«
Seine Stimme brach, seine Hände
klammerten sich an die Lehne des Backenstuhls. Seine Blicke waren im Raum
umhergeirrt, jetzt hefteten sie sich in stummer Ratlosigkeit auf das Gesicht
Henricis.
Der hatte sich, im Eifer des Zuhörens,
vorgebeugt, nun stand er auf, trat zu seinem Stehpult, legte wie in
Zerstreutheit seine Brille auf das dort aufgeschlagene Buch, kam zu Panezza
zurück.
»Die Frage ist«, sagte er langsam, »wem
wäre damit geholfen? Ich meine, wem wäre mit einem solchen Schuldbekenntnis
gedient, außer vielleicht Ihrem eigenen Selbstgefühl? Die andere Frage: wem
würde dadurch geschadet. Denn den Toten wecken Sie nicht mehr auf — und die
Staatsanwaltschaft oder Kriminalpolizei dürfte das alles nicht weiter bringen.
Mit dem jetzt geschehenen Mord hat Ihre persönliche Gewissensfrage nichts zu
tun.«
»Zum mindesten«, sagte Panezza, »wäre
damit eine Schuld getilgt, die nicht ungesühnt bleiben sollte — so wenig wie
der Mord.«
Henrici setzte sich wieder, sah ihn
lange an. »Es gibt«, sagte er schließlich, »sehr viele Arten von Schuld oder
Sünde, und es gibt sehr wenige Möglichkeiten ihrer Tilgung, wenn man mit
menschlichen Maßen mißt. Irdische Gerechtigkeit, die wir alle erstreben,
entspricht nur bedingt der wahren, göttlichen, deren Wesen im überzeitlichen
Ausgleich beruht. Das meiste Unrecht, die meisten Sünden und Vergehen, sind
kaum im Gesetz und nicht einmal in den Geboten genau zu fassen — und das
menschliche Gesicht, von dem man sagt, daß es ein Spiegel der Seele sei, ist in
Wahrheit nichts als die Maske, hinter der sich Schuld und Unschuld in einer
kaum entwirrbaren Weise vermischt. Wären Sie als Beichtender zu mir gekommen,
dann müßte ich anders mit Ihnen reden. So ist es nicht meine Sache, Ihr
Gewissen wachzurütteln — das hat sich schon ganz von selber wachgerüttelt...
Denn das Gewissen — syneidäsis — , ich glaube, daß es eine selbstwirkende Kraft
in uns ist, sogar ein Teil unserer angeborenen Natur —und wenn es das nicht
wäre, sondern nur ein Ergebnis vernünftiger Überlegung, dann hätte es gar
keinen Wert... Ich weiß, Sie denken anders — «
Beide schwiegen einen Augenblick.
›Warum‹, dachte Henrici, ›ist er
hierhergekommen? Er glaubt an die Vernunft — an die sittliche Selbstbestimmung
— und plötzlich spürte er, daß er damit allein nicht weiter kommt, weil ihm
außerdem die Seele gegeben ist, diese Erinnerung an den Ursprung, dieser Quell
der Unruhe und des Trostes. ‹
Warum bin ich hierhergekommem, dachte
Panezza verwirrt.
»Ja, ich denke anders«, sagte er laut,
»aber ich bin gekommen, weil ich den Rat eines klugen und verschwiegenen
Menschen suchte — auch wenn er Priester ist.«
»Sie können ruhig sagen, weil er
Priester ist«, erwiderte Henrici lächelnd, »denn ohne das Amt, glaube ich, das
mir die Stellvertretung eines höheren Rates auferlegt, könnte ich Ihnen weder
raten noch helfen. Aber ich fürchte, Sie wollen sich’s wieder zu leicht machen.
«
»Zu leicht«, wiederholte Panezza, mit
einem ihm selbst nicht bewußten, kaum hörbaren Stöhnen in seiner Brust.
»Ich meine«, sagte Henrici, »man kann
sich nicht so leicht einer Lebensschuld entledigen, indem man sie einfach
abwirft, wie einen Sack voll alter Nägel, der dann anderen auf die Füße
fällt... Ein Autodafé ist noch keine Tugend, eine Selbstzerstörung noch lang
keine Entsühnung. Sie kämen sich als Märtyrer vor — und andere müßten
zahlen. Ihre Kinder zum Beispiel — warum wollen Sie denen, wenn nichts Ärgeres,
eine solche Verletzung ihres Empfindens zumuten — ganz ohne Not? Und all die
Menschen, denen Sie durch Ihre Stellung, Ihre Wirksamkeit, etwas bedeuten —
selbst wenn es nur die eines ›Fürsten des lokalen Frohsinns‹ wäre, wie Sie
vorhin gesagt haben — auch das verpflichtet. Nein — es besteht kein Notstand
für eine öffentliche Erörterung dieser Sache — weder im rechtlichen noch im
moralischen Sinn. Vielleicht hätten Sie sich früher einmal, zu einem ganz
anderen Zeitpunkt Ihres Lebens, anders entscheiden können — jetzt ist es zu
spät. Sie dürfen nicht aus Ihrer Rolle fallen! Verstehen Sie mich?«
»Glauben Sie nicht«, sagte Panezza
gequält, »daß man immer noch — auch als Mann meines Alters — ganz neu anfangen
kann? Sie sagen, ich darf nicht aus
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