Die Feen - Hallmann, M: Feen
andere zurückzog, als regten sich die Tentakel eines schlafenden Kraken. Das Glen, in dem eine verlorene Schwester lebte. Die Versuchung war so groß, dass Leslie bereits einige Schritte auf die Tür zu getan hatte, ehe sie merkte, dass sie sich bewegte.
In ihrem Hinterkopf gab es ein Geräusch. Schwach. Zuerst konnte sie es nicht identifizieren, dann erkannte sie es. Es war Graus Knurren. Das leise, warnende Knurren, das fast unablässig in seiner Kehle rollte, wenn er in der Dämmerung an der Brücke stand und die Burg beobachtete. Es gab keinen Anlass zu glauben, dass es ihre Schwester war, die ihr diese Tür öffnete. Und auch keinen Anlass zu glauben, dass es sich um eine wohlmeinende Einladung handelte.
Erneut blinzelte sie, und mit einem Mal gab die Erstarrung ihre Gliedmaßen frei. Sie machte einen Schritt voran, und die Tür verschwand. Diesmal flossen die Steine nicht zusammen, wie sie zuvor auseinandergelaufen waren. Die Tür war einfach fort, als hätte es sie nie gegeben, und Leslie bildete sich ein, ein Kichern durch den Korridor wispern zu hören.
Ich sehe dich.
»Dann komm her«, forderte sie den Besitzer der unsichtbaren Augen auf. »Komm her, wenn du dich traust, wer du auch bist.«
Stille.
Leslie wartete noch eine Weile. Sie fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war, die Tür nicht zu öffnen. Aber es war keine Lösung, dass sie sich ebenfalls in der Feenwelt verlor, und sie wusste nicht, was sie drüben erwartet hätte. Möglicherweise hätte sie auch die Tür geöffnet, um dahinter eine nackte Mauer aufragen zu sehen und jemanden kichern zu hören. Es war nicht sicher, dass die unsichtbaren Augen, deren Blick sie spürte, die ihrer Schwester waren – es war nicht einmal wahrscheinlich. Hier auf Glen trieb sich einiges Kroppzeug herum, das meiste davon jedoch glücklicherweise nicht allzu gefährlich.
Als nichts weiter geschah, lief sie auf die Wand zu, an der die Tür gewesen war, und bog ab in den Trakt mit den Speisesälen. Ein etwas verspäteter Schüler wollte sich an ihr vorbeidrücken, erkannte sie und starrte sie an. Mit rotem Kopf huschte er vor ihr in den Saal der sechsten Klasse. Sie holte tief Luft und folgte ihm.
Alasdair saß am Kopf der rechten Tafel. Neben ihm Ricky Shawfield und Aden Carlisle, beides Zirkelmitglieder. Und engagiert, wie Leslie feststellen durfte. Als sie sie in der Tür stehen sahen, wären sie fast aufgesprungen. Alasdair hingegen blieb ruhig sitzen. Sein Blick traf sie quer durch die Halle mit erschütternder Verachtung. Hatte er gewusst, dass sie kam? Hatte irgendein Geschöpf, dessen Gegenwart ihrer Aufmerksamkeit entgangen war, sie angekündigt? Gut möglich. Ihr kam sogar der Gedanke, dass die Tür kein Angebot gewesen war und auch kein Spott, sondern ein Versuch, sie aufzuhalten. Einige wenige Sekunden lang, damit genug Zeit war, um Alasdair vorzuwarnen.
Im Saal entstand Unruhe. Schüler steckten die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. Jeder für sich machte so wenig Lärm wie möglich, aber die leisen Geräusche, das Flüstern und Zischen summierten sich zu einem Raunen, das Leslie ohrenbetäubend vorkam. Weit über hundert Jungsgesichter, in denen Neugier stand, waren ihr zugewandt. Ihr, die sie es nicht gewöhnt war, viel angeschaut zu werden. All die Blicke machten sie ganz schwindelig.
Mehrere Herzschläge lang ließ Alasdair sie so stehen. Mach nur, dachte sie. Dann komme ich eben zu dir. Sie war nicht hier, um sich abwimmeln zu lassen.
Alasdair bewegte die Lippen, sagte etwas zu Ricky Shawfield und Aden Carlisle, und als er aufstand, blieben sie sitzen. Mit langen Schritten kam er auf Leslie zu. Ihr sank fast das Herz. Sie war wütend auf sich selbst. Die hilflose Zuneigung zu Alasdair fand keine Erwiderung in seiner Miene. Jetzt war er ernstlich wütend. Mit einer Kopfbewegung scheuchte er sie voran, aus dem Saal hinaus, und als sie nicht schnell genug gehorchte, packte er sie hart am Arm, stieß sie nach draußen, folgte ihr und drückte die Saaltür zu. Vor seiner Wut wich sie einige Schritte zurück, bevor sie sich fing.
»Was?«, zischte er.
»Weißt du es?«, fragte sie. Es kam ihr vor, als hebe sie die Frage wie einen schützenden Schild zwischen sich und ihn.
»Was weiß ich?«, fauchte er. »Dass ich dich in letzter Zeit sehr viel öfter sehe, als ich will? Dass du mir ständig über den Weg läufst? Dass du die ganze Zeit ein Gesicht ziehst wie ein Weltuntergangsprophet? Dass du mir auf die Nerven gehst? Und dass du
Weitere Kostenlose Bücher