Die Feen - Hallmann, M: Feen
gesehen!«, stimmte Gin die übliche ungläubige Litanei an – als wäre es unmöglich, dass einem Menschen, der gestern noch wohlauf gewesen war, heute etwas zustieß. Als müsste man mindestens ein Jahr lang schwerkrank sein, ehe es denkbar wurde, dass man starb. »Gestern haben wir uns doch noch unterhal… wo willst du hin?«
Leslie antwortete nicht. Barfuß, wie sie war, rannte sie durch die kleine Diele und nach draußen. Lief die Straße zum Dorfplatz hinauf, darüber hinweg, ohne auf Grüße und Blicke zu achten, und den Feldweg entlang, der zu Mariah Logans kleinem Häuschen führte. Spitze kleine Steinchen stachen ihr in die nackten Sohlen, sie scherte sich nicht darum.
Bist du nicht müde?
Sie und Grau waren gestern die ganze Nacht bei der Burg geblieben. Es war die erste Nacht seit langer Zeit, in der Grau nicht in der Dämmerung an der Brücke gesessen hatte. In der er nicht nachts seine unruhigen Runden durchs Dorf gezogen hatte. Leslies Herz hämmerte, ihr Kopf war angefüllt von einem Satz: Bitte nicht. Bitte nicht. Bitte nicht.
Mariahs Tür war nie abgeschlossen. Leslie trat ein, ohne zu klopfen, und fand ein leeres Haus vor. Menschenleer jedenfalls. Natürlich. Sie würden sie ins Krankenhaus gebracht haben. Benommen wankte sie durch die Wohnküche zum Schlafzimmer. Das Fenster stand offen. Mariah hielt viel von der kräftigenden Wirkung frischer Luft. Wenn es nach ihr ging, war an sämtlichen Krankheiten, von Erkältungen bis zu Hirntumoren, nur der Mangel an frischer, gesunder Luft schuld.
Mariahs Bett war nicht so ordentlich wie sonst. Zwar lag die Tagesdecke zusammengefaltet auf dem plüschroten Stuhl, und die hellgrünen Hausschuhe mit den kleinen Bommeln darauf standen vor dem Bett, die Spitzen nach außen gewandt, damit nachts keine Hexe hineinsteigen und dann ins Bett kriechen konnte. Doch das Bett selbst war zerwühlt, die Laken zerknittert, als hätte sie sich im Fieber darin herumgewälzt.
Mit mechanischen Bewegungen brachte Leslie es in Ordnung. Zog das Laken ab, das noch immer klamm von Nachtschweiß war, nahm frische Wäsche aus dem Schrank, bezog das Bett und stopfte die benutzte Wäsche in einen Beutel, den sie in der Vorratskammer fand, um sie zum Waschen mitzunehmen. Dann breitete sie die Tagesdecke über dem Bett aus. Als sie fertig war und sich umdrehte, sah sie gerade noch etwas davonhuschen. Sie folgte der winzigen verwischten Bewegung, setzte sich vor dem Küchenschrank auf den Boden und summte freundlich. »Hab keine Angst«, flüsterte sie, als sie spürte, dass ihr Summen Erfolg hatte und sich das Geschöpf unter dem Schrank etwas beruhigte. Mit ein wenig Anstrengung kam sie, ohne aufzustehen, an die Schublade heran, in der Mariah ihre Kekse aufbewahrte. Sie nahm einen Keks heraus, einen herrlich duftenden Zimtstern, und knabberte an einer Ecke. Unter dem Schrank regte sich etwas.
»Hier, nimm du auch etwas«, flüsterte sie, brach eine Ecke ab und legte sie unter den Schrank. Kurz darauf hörte sie eifriges Knabbern, dann kroch eine kleine Gestalt unter dem Schrank hervor, auf ihren Schoß, kauerte sich dort zusammen und schielte verlangend nach dem restlichen Keks. Sie reichte ihm eine weitere Ecke.
Lumpi, wie Mariah den Kleinen nannte, obwohl sie ihn wohl nie gesehen hatte, war der bestgekleidete Herdgeist des gesamten Dorfs. Obwohl Mariahs Augen schwach geworden waren, nähte sie ihm jedes Jahr um Weihnachten herum einen neuen Satz Kleidung, legte sie ihm hin und freute sich, wenn am nächsten Morgen alles verschwunden war. Eigentlich waren ihm die Sachen ein wenig zu eng, aber weil er so stolz darauf war, machte er sich ein wenig kleiner, als er von Natur aus war. Wenn er in seinen Sachen einschlief, im Schlaf seine eigentliche Größe wieder annahm und dadurch seine Kleidung zerriss, legte er sie Mariah morgens hin und konnte sie abends geflickt wieder abholen.
»Ihr hattet heute Nacht Besuch, du und Mariah, nicht wahr?«, fragte Leslie leise.
Mit verschreckten Augen schaute Lumpi zu ihr auf. Vielleicht war es gut, dass er für Mariah unsichtbar geblieben war, denn er war der hässlichste kleine Hauskobold, den Leslie je gesehen hatte. Sein Gesicht bestand fast nur aus einer riesigen, schiefen Nase, das Kinn war kaum zu erahnen, die Stirn so flach, dass Augenbrauen und Haaransatz miteinander verschmolzen. Dafür aber war seine rote Mütze eine wahre Pracht, und an ihrem Ende hing ein Bommel von der gleichen Art wie die an Mariahs Hausschuhen.
»Besuch!«,
Weitere Kostenlose Bücher