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Die Feen - Hallmann, M: Feen

Die Feen - Hallmann, M: Feen

Titel: Die Feen - Hallmann, M: Feen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maike Hallmann
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hier eigentlich immer neblig? Er konnte sich an keinen einzigen Tag erinnern, an dem die Sicht vollkommen klar gewesen wäre. Am Wasser sah er einen Baumstumpf, aus dem zahlreich neue, dünne Zweige sprossen, die Schnittfläche des Stamms war mit Moos überwuchert. Unwillkürlich trat er näher, hockte sich hin und strich behutsam darüber. Es war dick und weich, ein rundes grünes Kissen, und ein wenig feucht. Er stellte sich vor, wie sich ein kleines Geschöpf im Moos zum Schlafen zusammenrollte. Eine Art Fee mit einem Blütenkelch als Hut und zarten, durchscheinenden Flügeln. Dann schaute er über den Stamm hinweg wieder zum See, und mit einem Mal konnte er sich deutlich vorstellen, wie sich aus dem ölig schwarzen Wasser ebenso schwarze Nüstern hoben, eine schwarze Pferdenase, wilde, weit aufgerissene, hungrige Augen. Er erschauerte.
    Es war allzu leicht vorstellbar, hier in diesem Tal mit seinen sanft gewellten Wiesen, den knorrigen Bäumen und dem allgegenwärtigen Nebel.
    »Pass bloß auf, Reutter, sonst wirst du noch verrückt«, ermahnte er sich selbst und erhob sich. Er verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete den See mit zusammengekniffenen Augen. »Kelpie«, rief er, nur halb laut, weil es ihm ein wenig peinlich war. »Wenn es dich gibt, dann komm her. Ich verspreche auch, mich fressen zu lassen, wenn du hier und jetzt aus dem Wasser kommst. Na hopp! Ich warte!«
    Sacht strich eine Böe über das Wasser und streichelte Wellen hinein. Und für einen kurzen Moment glaubte Benny zu sehen, wie sich unter der Oberfläche des Sees etwas regte. Ein riesiger Schatten. Für einen kurzen Moment war alles vorstellbar, sogar die Existenz eines menschenfressenden Wassergeists und damit natürlich auch nahezu alles andere – warum nicht? Menschenfressende Pferde, Kobolde, Feen und ein Leben nach dem Tod. Geister.
    Ihm stockte der Atem. Plötzlich und sehr heftig stach Schmerz durch seinen Leib, dass er sich fast gekrümmt hätte. Er hielt sich aufrecht und spürte dem Schmerz nach. Kurz glaubte er eine Stimme im Wind zu hören, ein Streicheln zu spüren, als der Wind ihm über die Wange strich. Anwesenheit. Wenn es mehr gab als das, was man sah, dann musste der Tod nicht das Ende sein. Die schiere Möglichkeit überwältigte ihn. Seine Lungen brannten, weil er das Atmen vergaß.
    Er suchte nicht nach Trost, weil er sicher war, dass es keinen gab. Wenn er sich aber irrte? Wenn man sich nicht selbst belügen musste, um irgendwo und irgendwie Trost zu finden, wenn man nicht vergessen musste, sondern … wiederfinden konnte? Er zwang sich, es zu denken: Was, wenn seine Mutter noch da war, irgendwo, irgendwie? Wenn das Leben mehr war als der ohnehin schon rätselhafte Umstand, dass es kam und ging, wenn Menschen aus mehr bestanden als aus Fleisch und Blut und Knochen? Er ballte die Fäuste und ertrug den Schmerz, der in ihm aufwallte, weil er sich auf diesen Gedanken einließ. Auf einen kurzen Moment, in dem alles möglich war.
    Jemand trat neben ihn. Eilig blinzelte Benny ein paar Tränen weg, die ihm in die Augen gestiegen waren. Er drehte sich zu Oliver um und machte den Mund auf, um etwas Spöttisches zu sagen. Aber da stand nicht Oliver, sondern der graue, zottige Hund. Sein Kopf war auf Höhe von Bennys Brust. Wenn sich das Tier auf die Hinterbeine aufrichtete, musste es ihn deutlich überragen. Es betrachtete den Jungen mit ruhigen, bernsteinfarbenen Augen, dann schaute es auf den See hinaus.
    Benny atmete tief durch. »Wem gehörst du eigentlich?«, fragte er und ließ vorsichtig eine Hand über das raue Fell gleiten.
    Der Wolfshund wandte den Kopf, hechelte ihn freundlich an und leckte ihm kurz über die Hand.
    »Hast Recht«, stimmte ihm Benny zu. »Blöde Frage. Ist ja völlig egal.«
    Der Hund grinste.
    »Ich halte es für möglich, dass man hier in Glenshee relativ leicht verrückt werden kann«, teilte ihm Benny mit. »So richtig meschugge.«
    Der Hund schaute ihm ins Gesicht und winselte leise, dann stupste er ihn mit der großen schwarzen Nase an. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg nach Glen. Auch diesmal zögerte der Hund an der Brücke, als wollte er sich der Burg nicht weiter nähern als unbedingt nötig. Vielleicht hatten ihn mal Schüler geärgert, mit Steinen beworfen oder nach ihm getreten. Zum Abschied kraulte Benny ihn hinter den langen grauen Ohren und kehrte allein nach Glen zurück. Er war so durcheinander, dass er sich in den falschen Flügel verirrte und von einem

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