Die Feen - Hallmann, M: Feen
was er suchte.
Auf dem Korridor war niemand, das Licht war leicht gedämpft, ab zehn Uhr abends wurde es heruntergedreht. Benny wusste nicht, wie spät es war, und er wusste nicht, ob es erlaubt war, zu dieser Zeit zu duschen, aber es war ihm egal. Noch ein paar Atemzüge dieses fäulnisverseuchten Gestanks, und er würde sich übergeben. Wahrscheinlich hatte sich der Geruch in seinen Haaren festgesetzt – ein Wunder, dass am Abend niemand mit gerümpfter Nase von ihm abgerückt war.
Die Waschräume waren riesig, wenn sie nicht von halbnackten Leibern und durcheinandersummenden Stimmen erfüllt waren, links und rechts huschten bis ins Endlose gespiegelte Bennys vorbei, und die Fliesen schimmerten eisblau wie lauter kleine, viereckige Bergseen. Benny stellte sich unter die erstbeste Dusche, drehte sie auf und stellte das Wasser so heiß ein, wie er es gerade noch ertrug. Er wusch sich die Haare und seifte sich gründlich ein, dann stützte er sich mit beiden Händen gegen die Wand, schloss die Augen und ließ sich vom prasselnden Wasser die Verspannungen aus dem Leib brennen. Die Verspannungen und die Träume.
Es waren nicht die üblichen Träume gewesen. Nicht die, in denen seine Mutter bleich und skelettdürr in der Küche saß und das Leben ganz normal weiterging, nur dass sie eben so aussah wie kurz vor ihrem Tod. Auch nicht die, in denen er etwas Wichtiges vergessen hatte, was er für sie hatte tun sollen, und es zu spät war, um es noch schnell zu erledigen, bevor sie es merkte. In diesem Traum war er wie Ned Finley ins Moor gestolpert, und auch wenn er sich an nicht viel erinnerte, dann doch daran, dass er darin versunken war. Daran, wie ihm brackiges Wasser in Nase und Mund geflossen war. Und mit einem Mal hatte er gewusst, dass Leichen im Moor lagen. Im selben Wasser, dass er jetzt schluckte. Verwesende Leichen, aufgetrieben und schwammig, die Haut so weich, dass sie sich in den Wellen löste, die er beim vergeblichen Strampeln verursachte. Ganze Stücke fahler, weicher Haut, die auf der Oberfläche des dunklen Wassers trieben. Er konnte die Toten schmecken. Der Traum war vorbei, aber schmecken konnte er sie noch immer. Er würgte und spuckte ein paarmal aus, aber es wurde nicht wirklich besser.
Mittlerweile fühlte es sich an, als prassle das Wasser auf rohes Fleisch. Benny drehte es ab, und es wurde still. Nur seine Schritte platschten auf dem Boden, als er zum Handtuch ging und sich abtrocknete. Dann zog er den frischen Schlafanzug an. Es half nicht viel, er fühlte sich noch immer besudelt.
Kurz entschlossen kehrte er ins Zimmer zurück, grub so leise wie möglich in seiner Schuluniform nach dem Brief seines Vaters und schlich wieder hinaus. Schlafen würde er jetzt ohnehin nicht können. Irgendjemand grunzte im Traum, wachte aber nicht auf.
Die Standuhr im nur vom Feuer erleuchteten Kaminzimmer verriet ihm, dass es kurz nach drei Uhr war. Das Feuer im Kamin brannte fröhlich, aber er legte trotzdem zwei Holzscheite vom Stapel nach. Dann zog er sich auf Callahans Sessel zurück und schaltete die Leselampe ein.
Mittlerweile hatte er mitbekommen, dass jede Klasse über ein eigenes Kaminzimmer verfügte, die anderen hatte er jedoch noch nicht gesehen – vermutlich waren sie ebenso riesig wie dieses hier. An Platz jedenfalls mangelte es auf Glen nicht. Er hätte sich den Raum kleiner gewünscht, so verlor sich das Zimmer in der Dunkelheit, die Decken waren viel zu hoch, die Tische an den Fenstern sah er noch als Umrisse, und die Bücherregale verschwanden bereits vollständig in der Finsternis. Am Kamin war es jedoch einigermaßen gemütlich, trotz der gähnenden Leere hinter ihm, die ihm überdeutlich bewusst war.
Er holte den Brief heraus und betrachtete ihn, wandte ihn um, betrachtete auch die Rückseite und seufzte. Dann riss er ihn auf. Als Erstes fielen ihm drei Zwanzig-Pfund-Noten entgegen. Stirnrunzelnd steckte er sie weg und faltete den Brief auf.
Lieber Benny,
ich bin jetzt in Inverness und fliege in zwei Stunden nach Hause. Du bist bestimmt wütend, weil ich mich nicht von Dir verabschiedet habe. Aber glaub mir, es ist besser so. Du wirst das alles irgendwann begreifen. Vielleicht erst, wenn Du selbst Kinder hast. Dir geht es im Moment nicht gut, und das ist ja verständlich. Ich habe versucht, Dir zu helfen, aber ich bin nicht der Richtige dafür. Manchmal geht es im Leben darum, loslassen zu können. Du musst Deine Wut loslassen. Ich muss Dich loslassen. Wir müssen beide begreifen,
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