Die fernen Tage der Liebe

konzentrierte sich. Da war er, der Affront. Aber sie würde sich nicht provozieren lassen.
    »Sag mir, wo du bist.«
    »Du bist eine Lügnerin.«
    »April, ich will genau wissen, wo du steckst, und zwar sofort.«
    »Ich lege auf.«
    »Ich will, dass du deinem Großvater etwas ausrichtest«, fügte Marcy rasch hinzu. »Und dich könnte es möglicherweise auch interessieren.«
    April schwieg. Man hörte ein Rauschen, dann ein Rascheln, aber die Verbindung war nicht tot.
    »Sag ihm, wenn er uns nicht anruft und uns wissen lässt, wo ihr seid, wenn er uns dich nicht abholen lässt, verständige ich
     die Polizei. Irgendwann reicht es. Dann sitzt er für den Rest seinesLebens im Gefängnis. Richte ihm das aus, April. Sag ihm, dass er seine letzten paar Tage auf Erden in einer Zelle verbringen
     wird. Dass er als einsamer alter Mann sterben wird, entehrt und erniedrigt. Niemand wird ihn je besuchen oder überhaupt noch
     mal wiedersehen, schon gar nicht ich. Richte ihm das aus. Verstanden?«
    Es entstand eine Pause. Dann hörte Marcy die Stimme ihres Vaters sagen: »Verstanden.«

25
    Mike fuhr hoch. Erst dachte er, der Fernseher habe ihn geweckt, aber als er die Augen aufmachte, die Lider waren schwer und
     juckten, sah er, dass das Gerät gar nicht lief. Er schloss wieder die Augen, dankbar, dass er sich nicht rühren musste. Sein
     Kopf bollerte, der Mund war trocken, aber wenn er jetzt aufstand und sich ein Glas Wasser holte, würde es nur noch schlimmer
     werden. Er musste einfach liegenbleiben und sich am besten nicht rühren. Und abwarten.
    Er musste geträumt haben. Oder vielleicht war es auch nur eine Panikreaktion auf dieses Gefühl des Fallens gewesen, das man
     manchmal hatte, wenn man gerade einschlief. Colleen kannte den Fachbegriff dafür, sie hatte ihn ihm schon tausendmal gesagt.
     Mythisches … nein, mythologisches … nein, myklonisches Zucken. Es gab auch noch einen längeren Namen dafür, irgendwas Wissenschaftliches.
     An den konnte er sich nie erinnern.
    An andere Dinge konnte er sich sehr wohl erinnern. Lange hatte er in dem Sessel da drüben gesessen und sich an alles Mögliche
     erinnert. Was seinen Plan anging, sich mit Colleen zu versöhnen und wieder bei den Kindern zu sein, war er noch nicht weitergekommen.
     Würde Colleen einlenken? Die Antwort hatte einen weiteren Drink erforderlich gemacht. Was dachte Clare wohl jetzt von ihrem
     Vater? Würde sie sich überhaupt seine Version der Geschichte anhören wollen – und wie genau sollte dieseVersion überhaupt aussehen? Irgendwie fiel ihm die Vorstellung leichter, es Ty zu erklären, der sich praktischerweise gerade
     in einem Alter steter hormoneller Unrast befand. Er war vermutlich ebenso besessen von Mädchen wie Mike in seinem Alter, so
     scharf darauf, ein Mädchen flach zu legen, dass er diese …
Indiskretion
– ja, so würde Mike das nennen … jedenfalls, dass er ihn verstehen würde. Aber würde Ty ihn wirklich verstehen? Er war ja
     doch auch ein Mamasöhnchen und würde womöglich nur wenig Verständnis für eine Indiskretion aufbringen, die seiner Mutter wehtat.
     Aber darauf war Mike vorbereitet.
Im Moment denkst du noch so
, würde er sagen.
Aber wenn du erst älter wirst, wenn du mal in mein Alter kommst, wenn du mal in eine Situation kommst, die auch nur annähernd
     mit meiner zu vergleichen ist, dann wirst du mich verstehen. Bis dahin rate ich dir, nicht zu vorschnell zu urteilen.
    Genau das hatte Colleen damals zu Mike gesagt, als sie die erste Nacht zusammen verbracht hatten.
    »Falls da nicht noch etwas ist, was du mir verschwiegen hast, dann weißt du doch gar nicht genau, was dein Vater wirklich
     gemacht hat«, hatte sie ihm vor so vielen Jahren erklärt, während sie in Mikes Arm lag und ihm über den Brustkorb streichelte.
     »Vielleicht hat er nur aus Versehen zu viele Tabletten abgezählt und die überzähligen wieder zurückgeschüttet.«
    Mike schüttelte den Kopf. »Ich habe es seinen Augen angesehen«, widersprach er. »Diesen Claus-von-Bülow-Augen. Mag sein, dass
     er es sich an diesem Abend sogar noch einmal anders überlegt hat. Aber ich wusste, am Ende würde er es tun. Einmal habe ich
     ihn sogar damit konfrontiert. Ein paar Wochen, nachdem Mom gestorben war.«
    »Und was hat er gesagt?«, fragte Colleen.
    »Keinen Ton.«
    »Also weißt du es immer noch nicht sicher.«
    »Ich weiß es«, beharrte Mike und starrte die Decke an. »Si cher .«
    Aber im Laufe der Jahre hatte Mike angefangen, an seiner