Die fernen Tage der Liebe
Gewissheit zu zweifeln, obwohl er Colleen in diese Zweifel nie eingeweiht
hatte. Hier und da, wenn eine Familienfeier ihn an seine eigene Kindheit erinnerte und er wieder vollkommen niedergedrückt
war, hatte sie ihn bedrängt, nach Ohio zu fliegen, sich mit seinem Vater an einen Tisch zu setzen und die Sache endlich zu
klären.
Vielleicht erfahre ich ja jetzt, wo ich aus bestimmten Gründen in diesem beschissenen Hotelzimmer hocke, wie mein Vater die
Sache damals gesehen hat, dachte Mike. Vielleicht hatte er ohnehin schon immer gewusst und verstanden, wie sein Vater die
Sache sah, und es sich nur nie eingestanden: dass er, Mike, weder mit Colleen noch irgendeiner anderen Frau je so etwas erleben
würde, was sein Vater mit seiner Mutter erlebt hatte. Dass er unfähig war – körperlich ebenso wie psychisch –, so etwas zu
erleben. Und dass es ihm auch an dieser anderen Eigenschaft fehlte, die sein Vater besaß und auch nötig gehabt hatte – Mut?
Selbstlosigkeit? Liebe? Eine Eigenschaft jedenfalls, das wurde Mike hier in der entsetzlichen, sterilen Einsamkeit einer überteuerten
Absteige plötzlich klar, die es seinem Vater ermöglicht hatte, eine vollkommen selbstlose Entscheidung zu treffen, egal um
welchen Preis.
Von draußen hörte er eine Frauenstimme.
»Ist jemand da drin?«
Es folgte ein dreimaliges energisches Klopfen, das ihm vorkam wie drei Hammerschläge zwischen die Schläfen. Colleen? Nein,
unmöglich. Es musste das Zimmermädchen sein. Aber heute war sie gar nicht mit Putzen dran. Das hatte er an der Rezeptiondoch klipp und klar erklärt: Zimmerservice nur alle zwei Tage. Warum konnten die Leute nicht die einfachsten Sachen begreifen?
»Heute nicht«, rief er nach draußen.
Schon diese Anstrengung brachte die heikle Gemengelage in seinem Magen und seinem Kopf aus dem Gleichgewicht. Heiße Wellen
übersäuerten Alkohols brodelten in ihm hoch und drohten bis hinauf an den schweren Balken zu schießen, der auf seinen Augenlidern
lag. Wenn es doch nur irgendein Werkzeug gäbe, einen Spachtel oder so etwas, mit dem man den ganzen Mist wegschaben konnte,
von dem sein Hirn am Schädel klebte. Mit so einer Erfindung hätte man Millionen verdienen können. Colleen würde ihn anflehen,
wieder zu ihr nach Hause zu kommen. Die Kinder würden größere Zimmer bekommen, mehr Platz für noch mehr elektronischen Schnickschnack,
der sie davon abhielt, auch nur den Anschein eines familiären Umgangs mit ihren Eltern zu erwecken.
Wieder klopfte es dreimal. Es wurde wohl Zeit, dass er seinem Unmut Luft machte. Denen den Arsch aufriss, wie sein Vater vielleicht
gesagt hätte. Langsam stand er auf, fest entschlossen, sich nicht zu übergeben. Er versuchte, den Schleim in seinem Mund loszuhusten,
aber dadurch wurde das Hämmern in seinem Kopf nur so schlimm, dass es inzwischen schon von der Tür zurückhallte.
»Mike?«
Eine männliche Stimme. Wer zum Teufel konnte das sein? Ein Kontrolleur? Der Mann von der Rezeption? Jedenfalls einer, der
seinen Namen kannte. Der Hoteldirektor? Was wollte der, verdammt noch mal? Er hatte doch bezahlt.
»Momentchen«, rief Mike.
Beim ersten Schritt stieß er beinahe die leere Flasche nebendem Stuhl um. Sie rollte halb unters Bett.
Das war mein letzter Tropfen
, schwor er sich wie schon am Abend zuvor.
Er schaffte es bis zur Tür, musste sich aber am Pfosten festhalten, bevor er sie aufmachte. Vor ihm standen Nick und Marcy.
Mann, was musste er für einen Kater haben!
»Du siehst nicht besonders gut aus, Bruderherz«, sagte Nick.
Marcy starrte ihn nur an. Sprachlos, und zwar wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben, dachte Mike.
»Colleen«, sagte Nick.
Mike nickte. Das reichte schon. Er stürzte ins Bad und kotze, so lange, bis er dachte, der Kopf würde ihm abfallen. Hoffentlich,
dachte er.
Als Mike die Augen wieder aufmachte, stand Marcy wie drohend über ihm und hielt die leere Flasche Jack Daniels in der Hand,
die sie offenbar unter dem Bett hervorgeholt hatte. Neugierige Ziege, dachte er.
Nur gut, dass ich nicht auf Cross-Dressing stehe.
Er spürte etwas Kaltes, Klammes auf der Stirn. Ein nasser Waschlappen.
»Mach mal leiser, Nick«, rief Marcy ihm zu, während sie das Etikett inspizierte.
»Es steht ja praktisch schon auf stumm«, hörte Mike seinen Bruder zurückrufen. »Glaub mir, der hört die nächste Zeit sowieso
nichts.«
Marcy nickte und musterte immer noch die leere Flasche. »Vielleicht nicht«,
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