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Die fernen Tage der Liebe

Die fernen Tage der Liebe

Titel: Die fernen Tage der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James King
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drauf!«
    »Brav«, schrie ihr Großvater.
    »Du willst, dass ich es mache? Also gut. Verlass dich drauf, ich mache es.«
    »Nein! Ich meine, brav ist das Wort, nach dem ich gesucht habe«, schrie ihr Großvater. Dann wurde er ganz leise. »Dafür bist
     du zu brav«, sagte er.
    April fuhr rechts ran und stellte den Hebel auf Parken, dann warf sie sich aufs Lenkrad und heulte los. »Ich bin nicht brav«,
     weinte sie. »Ich bin kein bisschen brav.«
    In der plötzlichen Stille, die sie umgab, spürte sie, wie unwohl sich ihr Großvater fühlte. Aber schließlich streckte er doch
     den Arm aus und streichelte ihr über den Rücken.
    »Nicht doch, Marcy«, sagte er. »Nicht doch.«

24
    In Marcys Kopf spielten sich alle möglichen Szenarien ab.
    Zunächst das
heroische
Szenario: April gerät in schlechte Gesellschaft. Marcy ignoriert tapfer jegliche Gefahr für ihre eigene Sicherheit – vielleicht
     eine Pistole an der Stirn oder ein über und über tätowierter Gruppenvergewaltiger? – und rettet April. Dann das
zu Recht empörende
Szenario: Marcy und April treffen schließlich aufeinander, obwohl April alles versucht hat, Marcy zu entgehen; Marcy spult
     eine erdrückende Liste von Fakten ab – die Sorgen und Unannehmlichkeiten, die April ihr bereitet hat, der Einkommensverlust
     nicht nur für Marcy, sondern auch noch für Nick und Mike; April bricht daraufhin tränenüberströmt zusammen und erkennt, wie
     unrecht sie hatte und wie recht ihre Mutter. Oder das
Totenbett- Szenario
: Ähnlich wie im heroischen Szenario rettet Marcy April aus größter Not – ein Zuhälter? ein Drogendealer? ein Pädophiler –,
     wird dabei aber tödlich verwundet; April schreit aus schierer Verzweiflung und Reue, als sie ihre Mutter im Krankenhausbett
     sieht, umgeben von einem Gewirr an Schläuchen und dem nichts Gutes verheißenden Piepsen der Geräte, die sie so eben noch am
     Leben halten.
    All diese Szenarien waren eine angenehmere Vorstellung als die Version, die – das wusste Marcy – sich letztlich zutragen würde.
     Sie würde versuchen, von April eine Erklärung zu erhalten, was denn eigentlich so schrecklich war an ihrem Zuhause, ihrer
     Mutter, ihrem ganzen Leben, dass man deswegen abhauen musste.
Waswar denn überhaupt so schlimm? Welche vollkommen unzumutbaren Forderungen wurden dir aufgebürdet? Ich habe lediglich von dir
     verlangt, dich anständig zu benehmen und gute Noten nach Hause zu bringen. Entschuldige, dass ich darauf bestanden habe. Verzeih
     mir, dass ich meine Rolle als Mutter ernst genommen habe. Hast du eigentlich eine Ahnung, was ich in deinem Alter schon alles
     durchmachen musste?
    Marcy wusste, dass sie Aprils Aufmerksamkeit spätestens in dem Moment verlieren würde, wo sie die Kindheit ihrer Tochter mit
     ihrer eigenen verglich. Sie wusste, dass April die Jugend ihrer Mutter genauso fern und irrelevant vorkommen musste wie ihr
     selbst seinerzeit die ihres Vaters. Aber wie sollte sie sonst zu ihr durchdringen? Wie sonst konnte man April begreiflich
     machen, dass sie allen Grund zur Dankbarkeit und auch ein bisschen Bewunderung hatte – und stattdessen dieser … Hass.
    Marcy grauste vor dem Wort. Natürlich war es eines, das die jungen Leute ständig im Mund führten, besonders dann, wenn es
     um die neuesten unzumutbaren Erwartungen ihrer Eltern ging. Auch sie selbst hatte dieses Wort in Aprils Alter oft gebraucht:
     und meistens in Verbindung mit ihrem Vater, wenn er mal wieder plötzlich bei ihr erschienen war – schwankend, mit glasigen
     Augen und einer Fahne, in der Hand ein Whiskeyglas mit klackernden Eiswürfeln – und ein Ausgehverbot verhängt oder verlangt
     hatte, dass sie mit dem Telefonieren aufhörte und sich endlich an ihre verdammten Hausaufgaben setzte. Sie hatte ihn gehasst.
     Marcy wusste einfach, sie war sich absolut sicher, dass ihre Mutter, die gerade damals immer schneller in ihr Schattenreich
     abgetaucht war, nicht so schrecklich und widerlich gewesen wäre. Aber gleichzeitig wusste sie trotz aller rebellierenden Hormone
     auch, dass ihr Vater sich bemühte, sein Bestes zugeben. Und jetzt, wo sie älter und selbst Mutter war, wusste sie sogar ganz genau, womit er alles zu kämpfen gehabt hatte.
    Trotzdem hatte er sich bemüht.
    Sehr sogar.
    Aber wieso in Teufels Namen, wie er es wahrscheinlich formuliert hätte, kam sie jetzt eigentlich darauf?
    Marcy mahlte mit den Zähnen. Na schön, er hatte sich bemüht, aber das Spielchen, das er sich jetzt leistete, war

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