Die fernen Tage der Liebe
deshalb musste er jetzt nicht hetzen.
Er würde seine letzte Fahrt durch Cranston genießen.
8
Während er in einer Nische in der Filling Station auf sie wartete, an seiner zweiten Tasse Kaffee nippte und zusah, wie die
hereinkommenden Gäste ihre Jacken und Anoraks ein wenig enger um sich zogen, wurde Nick klar, dass er keine Lust mehr hatte,
seine Schwester zu lieben.
Kein vernünftiger Mensch konnte das eigentlich noch, und dafür gab es genügend Gründe. Sie war peinlich laut. Sie fluchte
immer noch wie ein Teenager – zugegebenermaßen ein Laster, für das wohl er und Mike mitverantwortlich waren. Acht Jahre war
es jetzt her, dass Patrick Shea sich aus dem Staub gemacht hatte, und sie führte sich immer noch auf, als sei sie die erste
und einzige Frau, die je von einem gutaussehenden Arschloch hochgenommen worden wäre. Es würde ihn nicht überraschen, wenn
April erst erwachsen sein und selbst schon Kinder haben musste, bevor Marcy endlich aufhörte zu lamentieren, wie schwierig
es in der heutigen, viel zu freizügigen Gesellschaft war, als Alleinerziehende ein Kind großzuziehen.
Und jetzt kam sie wie üblich zu spät.
Egal, wie sehr er es auch versuchte, Nick war schlichtweg unfähig zur Unpünktlichkeit. Selbst wenn er sich zu einem Zeitpunkt
aufmachte, bei dem er sicher war, zu spät anzukommen, lichtete sich dann eben der Verkehr, alle Ampeln schalteten auf grün,
er bog überall richtig ab und war immer und ausnahmslos zu früh dran. Es war zum Verrücktwerden. Stets kam er zu frühzu allen möglichen Terminen oder gesellschaftlichen Anlässen, selbst zu solchen, auf die er gar keine Lust hatte. Marilyn
hingegen war da eher von der modernen, unpünktlichen Sorte gewesen, eine der wenigen Sachen, die ihn an ihr gestört hatten.
Nick saß dann immer in eisigem Schweigen hinterm Steuer, egal, wohin sie gerade zu spät kamen. Marilyn wiederum ignorierte
seinen Ärger einfach und saß nur still da, schaute sich die vorbeihuschende Landschaft an und summte vielleicht sogar leise
vor sich hin. Oder sie beugte sich vor und wechselte den Radiosender, und Nick erhaschte einen Hauch ihres Parfums. Und wenn
sie dann dort angekommen waren, wo auch immer sie hinmussten, wünschten sie sich meistens schon, sie könnten gleich wieder
nach Hause fahren und zu zweit für sich sein.
Zum dritten Mal seit seiner Ankunft klappte Nick die Speisekarte auf. Ich hätte ein Buch mitbringen sollen, dachte er. Diese
Strategie würde er sich für künftige Treffen mit Marcy merken.
So gern hätte er seine Schwester nicht mehr geliebt, aber jedes Mal, wenn er beschloss, es einfach nicht mehr zu tun, wurde
er überrumpelt von den Erinnerungen an jene Zeit, als sie beide noch jünger gewesen waren und zusammengehalten hatten. Sie
und er gegen die Sauferei ihres Vaters, gegen den Krebs ihrer Mutter. Sogar gegen das plötzliche Interesse ihres Bruders an
Mädchen, was allen möglichen lustigen Streichen ein Ende bereitet hatte, den Grimassen am Abendbrottisch, den obszönen Gesten,
sobald ihr Vater ihnen den Rücken kehrte – was hatten sie drei damals gelacht!
Und deshalb hatte Nick sich nun auch bereit erklärt, Marcy zu treffen, obwohl er befürchtete, dass ihre negative Ausstrahlung
ihn vielleicht wieder deprimieren würde, wo es ihm doch gerade einmal einigermaßen gutging. Dank Peggy sah er einen Hoffnungsschimmer,
wie ein Licht im Flur, das unter der Tür hindurchschien, dass er vielleicht doch nicht für den Rest seines Lebens so schrecklich allein bleiben musste. Nicks Unfähigkeit,
seine Schwester zu lieben, steigerte sogar seine Bereitschaft, mit ihr über ein Thema zu reden, das unter Garantie einen dunklen
Schatten auf seine jüngste Lebensfreude werfen würde. Nick wusste einfach, dass bei diesem Treffen nichts Erfreuliches herauskommen
konnte, außer sein Vater hatte im Lotto gewonnen oder jemand war hartnäckig genug gewesen, ihm eine langfristige Krankenversicherung
zu besorgen, oder – Nick klappte die Speisekarte zu – der Alte war tot.
Nick stellte sich im Geiste schon die Trauerrede vor – oder besser gesagt, die ehrfürchtigen Komplimente, die die Leute ihm
machen würden, nachdem er sie gehalten hatte. Da tauchte endlich Marcy auf.
»Es geht doch nichts über den November im scheißkalten Ohio«, sagte sie, warf ihre Handtasche voraus und glitt in die Nische.
Während sie ihren Mantel abstreifte und offenbar noch nicht einmal im Traum daran
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