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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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Land gilt der Notstand; Feuer Eis und Gold ist angelaufen. Bei der Aktion war Kettenglied um Kettenglied miteinander verbunden, an allen Stellen musste Zug um Zug streng nach Plan vorgegangen werden, nur so konnte er seine ganze Wirkung entfalten.
    Der oberste Befehl lautete: Abgesehen von einer sofortigen Ausgangssperre in Xinjiang und Tibet war es Polizei und Militär untersagt einzugreifen, solange aus der Zentrale nicht die ausdrückliche Anweisung dazu kam. Der Staatsapparat ging in Wartestellung. Er wartete ab, wie lange es dauern würde, bis das völlige Chaos ausbrach; wie lange das Volk die Anarchie aushielt; lauerte auf den Moment, in dem die Menschen die Regierung anflehen würden, sie nicht im Stich zu lassen, den Punkt, an dem der Staatsapparat bekniet würde, endlich zur Rettung zu schreiten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das gesamte Volk sich bereitwillig dem Leviathan unterwerfen würde.
    Sobald es zu größeren Plünderungen kam oder massive Fluchtbewegungen einsetzten, war dies für die Exekutive das Signal zum Eingreifen.
    Das Volk verbrachte schließlich ganze sechs Tage in Angst und Ungewissheit; die unterschiedlichsten Gerüchte verunsicherten die Bevölkerung. Am siebten Tag gab es von überallher Berichte über erste Anzeichen eines drohenden Chaos’, mehr aber auch nicht. Nur in einigen wenigen Regionen des Landes war es vereinzelt zu Plünderungen und Massenflucht gekommen. Dabei blieb es. Dennoch war die Angst der Menschen groß, man sehnte sich nach dem starken Arm des Staates. Und der streckte ihn seinen Bürgern entgegen: Am achten Tag, dem fünfzehnten Tag nach Neujahr, rückten Volksbefreiungsarmee und Militärpolizei symbolisch in über sechshundert Städte im ganzen Land ein. Sie wurden ausnahmslos von jubelnden Menschen in den Straßen begrüßt. Das bewies einmal mehr, dass in einer Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand die Angst der Menschen vor dem Chaos größer ist als vor der Diktatur. Es zeigte aber auch, dass es in China gar nicht so ungeordnet zuging, wie die Leute glaubten. Dennoch: Die große Mehrheit der Menschen wünschte sich nichts sehnlicher als Stabilität, und solange keiner auf den Gedanken kam, die Regierung für die chaotischen Zustände im Land verantwortlich zu machen, würde die Partei leichtes Spiel haben.
    Am Nachmittag jenes denkwürdigen Tages kündigten Sicherheitsbehörden, Militärpolizei und Armee gemeinsam an, hart gegen jegliche Form krimineller Machenschaften durchzugreifen, und verfolgten diesen Plan in aller Konsequenz. Die Gesellschaftsordnung war im Nu wieder hergestellt, selbst zu Bagatelldelikten schien es nun nicht mehr zu kommen. Die Regierung gab zudem bekannt, dass sie angeordnet hatte, die staatlichen Reisreserven an die Bürger zu verteilen; jeder könne täglich kostenlos eine Ration erhalten, niemand solle hungern.
    Interessanterweise kam es nicht zum erwarteten Ansturm auf die Reisausgabestellen, denn den Leuten schmeckte der jahrelang eingelagerte Reis nicht. Wegen der laufenden Anti-Kriminalitätskampagne gab es nicht einmal die üblichen Profiteure, die den Reis günstig aufkauften und an Reisschnapshersteller weiterverhökerten.
    Wütend fragte Fang Caodi: »Warum? Warum habt ihr die Bevölkerung absichtlich in Angst und Schrecken versetzt?«
    He Dongsheng ließ sich durch Fangs Einwurf nicht beirren und dozierte ungerührt weiter, als hielte er eine Vorlesung vor Studenten.
    »Vom Auftakt hing der ganze restliche Teil des Plans ab. Die Wirtschaftskrise war brandgefährlich, sie hätte ohne Weiteres die lange schwelenden sozialen Konflikte zur Explosion bringen können. Von ein paar ethnischen Reibereien abgesehen, richtete sich der Ärger der Chinesen damals immer gleich gegen die Regierung, und jede Lappalie konnte sich zu einem Massenereignis auswachsen. Die Menschen hatten inzwischen den Eindruck, nur so lasse sich etwas bewegen.
    Wir wussten aus unseren Simulationen: Wenn es landesweit gleichzeitig zu Massenereignissen käme, wäre die Regierung nicht in der Lage, alle Brandherde einzeln zu löschen. Ganz gleich, über wie viel Polizei-, Armee- und Waffengewalt wir verfügten, der Staatsapparat würde unter dieser Last in sich zusammenbrechen.
    Zuallererst durfte man also der Bevölkerung keinen Anlass bieten, die Regierung für alles verantwortlich zu machen. Als Ausweg kam also nur eine Lösung in Betracht: Die Bevölkerung musste sich vor sich selbst fürchten. Angst vor Anarchie.
    Thomas Hobbes beschreibt

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