Die fetten Jahre
Anarchie im Leviathan als ›Krieg aller gegen alle‹. In seiner natürlichen Form ist das Leben des Menschen für ihn einsam, kümmerlich, gemein, viehisch und von kurzer Dauer. Wenn Leib, Leben und Besitz keinerlei Schutz genießen, ist das der ultimative Terror. Aus Angst vor Anarchie und vor Chaos sind die Menschen bereit, vor einer ansonsten wenig liebenswerten Monstrosität auf die Knie zu fallen, wenn sie ihnen Schutz für Leib und Leben, Hab und Gut verspricht. Man musste die Leute spüren lassen, dass ihnen eine große Katastrophe bevorstand, und dass wir, dass die Partei ihre einzige Hoffnung war.
So ist es nun einmal in China. Das Volk fürchtet sich vor sich selbst weit mehr als vor der Regierung. Es fürchtet nichts so sehr wie die Anarchie. Die Partei hat es nicht im Stich gelassen. Sie war die letzte Hoffnung der Menschen und sie hat sie nicht enttäuscht.«
Xiaoxi wandte wütend ein: »Wir reden über Anarchie und die Notwendigkeit einer Regierung! Niemand bestreitet, dass ein Volk eine Regierung braucht! Aber wo bitte steht, dass als Regierung nur die KP infrage kommt?«
He Dongsheng blieb gelassen: »Darüber zu diskutieren ist doch sinnlos. Faktisch ist beides ein und dasselbe.«
»Ihr habt einen Zustand der Anarchie erzeugt, euch dann als Retter inszeniert, und euch so Rückhalt im Volk erschlichen! Selbst in Peking haben jubelnde Menschen die Straßen gesäumt, als die Armee einmarschierte! War das nicht genug? Warum dann auch noch die Repression? Wissen Sie eigentlich, wie viele unschuldige Menschen bei jeder dieser Kampagnen ihr Leben lassen?«
»Es fehlte nicht viel, und ich hätte diese Kampagne nicht überlebt«, sagte Fang Caodi.
»Jetzt seht mal: Ich persönlich wünsche mir ja auch, dass es die letzte ihrer Art war. Aber die Regierung musste hart durchgreifen, um sich vor dem Personalwechsel keine Blöße zu geben – auch als Vorbereitung auf die großen Aufgaben, die noch vor ihr lagen. Die Welt steckte im tiefsten ökonomischen Winter. Um sich selbst daraus zu retten, musste China massiv in seine Wirtschaft eingreifen und sie neu ausrichten. Und um die bevorstehende Durststrecke durchzustehen, musste der Staat die Gesellschaft zunächst lückenlos unter seine Kontrolle bringen. Und wie zähmt man das Volk? Als es ’83 zu Turbulenzen in der neu eingeführten Marktwirtschaft kam, hat der alte Deng Xiaoping doch auch eine Anti-Kriminalitätskampagne gestartet. Und ’89 ebenfalls, nur in etwas anderer Form, versteht ihr? Opfer lassen sich leider nicht verhindern, wenn man Großes vorhat.«
Xiaoxi und Fang Caodi wollten dem vehement widersprechen, doch He Dongsheng bedeutete ihnen, ihn erst ausreden zu lassen.
»1816, zwei Jahre nach Ende der Napoleonischen Kriege, rutschte England in eine große Rezession. Der Schuldenstand war fünfmal so hoch wie das Bruttoinlandsprodukt. Hinzu kamen Missernten auf dem ganzen Kontinent, ausgelöst von einem gigantischen Vulkanausbruch in Indonesien, dessen Asche selbst in Europa die Sonne verdunkelte. Der damalige Premier war der zweite Earl von Liverpool, Robert Jenkinson. Sein Berater war der große Ökonom David Ricardo. Als sie sahen, dass die Rezession bald soziale Unruhen auslösen würde, ersannen sie eine Maßnahme, die sich allein als durchschlagkräftig genug erwies, um die Krise zu überstehen: Mit der Zustimmung des Parlaments setzten sie Habeas Corpus, das Recht auf Schutz vor willkürlicher Inhaftierung, außer Kraft. Sobald jemand aufbegehrte, konnte die Regierung ihn ohne Rücksicht auf die sonst herrschende Rechtsordnung ins Gefängnis werfen lassen – heutzutage würde man sagen: Sie trat die Menschenrechte mit Füßen. Doch dank dieser Maßnahme trauten sich die sonst so aufmüpfigen Engländer während der ganzen Rezession nicht, gegen sie aufzubegehren. Ein Jahr später hatte sich die Wirtschaft wieder erholt.
Die Krise, in der die Welt gegenwärtig steckte, war weitaus heftiger als jene im alten England. Zwar musste die Bevölkerung damals hungern, doch die frühkapitalistischen Krisen folgten einem Zyklus von ein bis zwei Jahren und ließen sich immer irgendwie durchstehen, der nächste Aufschwung kam bestimmt. Die Krise, die uns blühte, ähnelte jedoch eher der Großen Depression in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, sie konnte sich gut und gerne über acht oder gar zehn Jahre hinziehen! Einfach die Zähne zusammenbeißen und durch – so ließ sie sich nicht bewältigen. Es brauchte mehr als ein
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