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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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umzusehen und zu lesen pflegte.
***
    Als Zhuang das Haus verließ, machte sich gerade auch der seit einigen Jahren in Peking ansässige taiwanische Schriftsteller Chen von der Happy-Village-II-Siedlung aus auf den Weg zu seinem alltäglichen Nachmittagsspaziergang, bei dem er für gewöhnlich eine der drei im Umkreis von zwei Kilometern gelegenen Starbucks-Filialen aufsuchte. Da es Samstag war, würden die beiden in Sanlitun und in der Oriental Ginza Mall sicher völlig überfüllt sein, daher blieb ihm nur das im Pacific Century Place Building, in der Hoffnung, dass die ganzen Bürohengste am Wochenende eher ins Fitnesscenter gingen als dort die Sofas zu belegen und im Internet zu surfen.
    Der einzige Unterschied zu den vergangenen zwei Jahren war, dass Chen dabei nicht quietschfidel und fröhlich wirkte. In jüngster Zeit war sein Glücksgefühl verflogen, ja, man konnte sogar sagen, dass er ausgesprochen niedergeschlagen war.
    Seit Xiaoxi seine Wohnung fluchtartig verlassen hatte, befand sich Chens Laune in einem Dauertief.
    Xiaodongs Weggang aus Peking hatte es nur noch schlimmer gemacht. Ein paar Tage nach seinem Besuch bei ihr war Chen nach Wudaokou zu Madame Song gefahren. Er hatte mit Be­dacht eine Zeit gewählt, zu der der junge PU-Elitestudent Wei Guo aller Wahrscheinlichkeit nach Vorlesungen haben würde. Kurz nach zehn Uhr vormittags hatte er im kleinen Gässchen hinter dem Restaurant Fünf Aromen auf Madame Song gewartet, von der er sich Nachricht von Xiaoxi erhoffte.
    Er trug einen beigefarbenen Trenchcoat, in dem er aussah wie Ng Man Tat als Privatdetektiv oder Law Kar-Ying als exhibitionistischer Lüstling in einer der unzähligen Slapstick-Komödien des Hongkong-Kinos. Er selbst fühlte sich darin jedoch eher wie Hollywood-Legende Humphrey Bogart oder der britische Harboiled-Autor Graham Greene. Als er Madame Song endlich in das Gässchen einbiegen sah und aus seinem Versteck heraus auf sie zuschoss, jagte er der jungen Frau, die vor ihr herging, einen solchen Schreck ein, dass sie schrill aufschrie.
    Als sich der kleine Tumult gelegt hatte, wandte sich Chen an Madame Song und fragte, ob sie eine Möglichkeit wisse, Xiaoxi zu kontaktieren. Sie zog einen kleinen Zettel aus ihrer Tasche: »Ich wusste, dass du kommen würdest. Als Xiaoxi mir das letzte Mal geschrieben hat, überlegte sie gerade, ob sie sich mit dir treffen sollte. Ich habe sie dazu ermutigt. Sie hat danach nichts mehr von sich hören lassen, aber vor ein paar Tagen bekam ich eine SMS, ich weiß nicht woher, mit dieser merkwürdigen Buchstabenfolge. Ich habe sie abgeschrieben. Ich wusste, dass du kommen würdest!«
    Chen sah sich den Zettel an und fragte dann: »Was bedeutet das?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Hat Xiaoxi Ihnen das geschickt?«
    »Es ist garantiert von ihr, ich bin ganz sicher.«
    Als Chen noch unschlüssig dastand, ergriff Madame Song seine Hände, fiel halb auf die Knie und flehte ihn an: »Hilf ihr, Chen, bitte hilf Xiaoxi!«
    Chen versuchte, sie zu beschwichtigen, und zog sie wieder hoch. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Chen spürte, wie seine Augen ebenfalls feucht wurden, und zog ein Taschentuch hervor, um sie zu trocknen.
    Madame Song sagte: »Ich weiß, dass du sie retten wirst, Chen. Du bist ein guter Mensch, du wirst sie retten!«
    »Ich werde tun, was ich kann«, antwortete er.
    Wieder zu Hause vor seinem Computer starrte Chen besorgt auf den kleinen Streifen Papier. Darauf stand nur ein Wort: kornichtot. nurernstgemeintesOK hatte Chen noch schnell entschlüsselt bekommen, aber was mochte kornichtot bedeuten? Korn-ich-tot? KO-aber-nicht-total? Das ergab doch alles keinen Sinn. Immer diese Probleme mit Buchstaben; bei chinesischen Zeichen konnte so etwas nicht passieren.
    Plötzlich erinnerte Chen sich an seine Kindheit in Hongkong, als seine Mutter unter der Woche in der katholischen Kirche von Rennie’s Mill gekocht hatte. Sonntagmorgens war sie mit Chen immer zum Gottesdienst bei den Protestanten gegangen, weil man dort nach der Predigt ein Paket Mehl geschenkt bekam, eine Spende aus den USA. Chens Mutter war während der Gottesdienste freilich jedes Mal eingeschlafen, er jedoch hatte als Kind gerne den Worten des Pastors gelauscht. Einmal, als jemand aus der Gemeinde gestorben war, hatte dieser in seiner Trauerrede gesagt, dass ein Weizenkorn, solange es lebe, nur ein Korn bleibe; wenn es jedoch sterbe und zur Erde falle, erwüchsen daraus viele Körner; ein Korn sterbe also gar nicht, wenn es zur Erde

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