Die Feuer von Córdoba
fest, dass sich der Leib des Herrn mühelos zur Seite schieben ließ. Darunter befand sich ein kleiner Hohlraum, gerade groß genug für den silbern glänzenden Schlüssel, der ihm regelrecht in die Hände fiel.
Einen Augenblick lang starrte Stefano verblüfft auf das kleine Ding, das auf seiner Handfläche lag und dabei so unschuldig aussah. Dann probierte er den Schlüssel an der geheimen Schublade aus. Er war nicht überrascht, dass er passte . Stefano wagte kaum zu atmen, als er mit geschlossenen Augen den Deckel des Geheimfachs aufklappte. Es dauerte, bis er sich traute, die Augen zu öffnen. Und dann sah er es vor sich liegen – ein schmuckloses, in dunkles abgegriffenes Leder gebundenes Buch. Vorsichtig nahm er es heraus und schlug es auf. Die Seiten waren gelb und fleckig vor Alter, und die Tinte auf den ersten Seiten begann bereits zu verblassen. Doch mit einem Blick erkannte er Pater Giacomos enge, kleine Handschrift, die Seite um Seite füllte. Stefano wurde übel, die Welt begann sich um ihn herum zu drehen, sein Kopf schien zerspringen zu wollen. Es gab keinen Zweifel, dass seine Suche erfolgreich gewesen war. Die Frau hatte ihn nicht angelogen. Aber jetzt, da er Pater Giacomos Tagebuch tatsächlich in den Händen hielt, stellte er fest, dass er die ganze Zeit über gehofft hatte, dass es nicht existierte.
Stefano keuchte. Seine Kutte wurde ihm zu eng. Er versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen, sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren wie eine Pauke.
Einen Augenblick kämpfte er gegen den Impuls an, das Buch einfach wieder in seine Lade zu sperren, den Schlüssel wieder an seinem Platz zu verstecken und Pater Giacomos Zelle zu verlassen; einfach die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Was gingen ihn die geheimsten Gedanken seines Lehrers an? Wollte er wirklich wissen, was er alles in den letzten Jahren getan und gedacht hatte? Wenn er dieses Buch aufschlug, konnte das bedeuten, dass alles in sich zusammenbrechen würde, woran er bisher geglaubt hatte. Vielleicht war sein ganzes Leben eine Lüge. Wollte er das wirklich? Wollte er dieses Risiko eingehen?
Stefano presste das Buch stöhnend an sich. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er hatte keine andere Wahl. Er musste erfahren, was Pater Giacomo geschrieben hatte. Wenn er jemals wieder seinen Seelenfrieden finden wollte, musste er das Tagebuch lesen.
Stefano schluckte bittere Galle, dann schlug er das Buch auf.
Die Sonne ging auf, ein neuer Tag brach an. Stefano stand am Fenster seiner Zelle und sah zu, wie allmählich die Sterne verblassten und sich die Farbe des Himmels von einem dunklen zu einem klaren silbrigen Blau verwandelte.
Es war schon weit nach Mitternacht gewesen, als er Pater Giacomos Zelle verlassen hatte. Alle Sachen lagen wieder an ihrem Platz, die Kutten, der kleine Schlüssel, die geheime Schublade. Sogar das Tagebuch befand sich wieder an Ort und Stelle. Alles war wie zuvor. Wenigstens in der Zelle.
Stefano starrte regungslos durch das Fenster. Das Funkeln des Morgenlichts, das die Kuppeln und Türme glänzen ließ, als wären ihre Dächer mit Schindeln aus purem Gold gedeckt, nahm er kaum wahr. Für ihn war alles schwarz. Tintenschwarz . Dort draußen auf den Straßen, am Himmel, in seiner Zelle, in seinem Kopf, in seinem Herzen.
Er hatte in dem Tagebuch gelesen. Nicht alles, nicht jede Seite, dazu war die Zeit zu kurz gewesen. Er musste aber auch nicht jeden Satz lesen, um zu begreifen. Um zu verstehen , dass sie Recht hatten – Mutter Maddalena und die Fremde, die wirklich seine Mutter war. Mit allem, was sie über Pater Giacomo gesagt hatten, hatten sie Recht. Und doch war die Wahrheit noch entsetzlicher, als sie es ihm geschildert hatten.
Als Stefano das Tagebuch schließlich zugeschlagen hatte, wollte er es verbrennen, ins Wasser werfen, zerreißen, es irgendwie vernichten, als könnte er dadurch alles, was darin geschrieben stand, ungeschehen machen. Als wäre dieses abscheuliche Ding, diese Missgeburt aus Pergament und Leder, allein dafür verantwortlich. Doch sein Verstand, der letzte Rest von Vernunft, der neben dem maßlosen Entsetzen in seinem Kopf noch Platz gefunden hatte, hatte ihn davon abgehalten . Das Buch war nur ein harmloser, unschuldiger Gegenstand , der wie ein Brotmesser für einen Mord missbraucht worden war. Wie ein Spiegel hatte ihm das Tagebuch lediglich auf schonungslose Weise das wahre Gesicht des Mannes gezeigt, den er bisher als seinen Mentor, seinen Lehrer verehrt hatte. Nein, er
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