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Die Feuer von Eden

Titel: Die Feuer von Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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bemerkte ich. »Vielleicht geht es an einem der Felsblöcke?«
    Mr. Clemens räusperte sich, als wolle er etwas sagen, und drehte sich um. Einen Augenblick später tat ich es ihm nach. Die junge Frau, die ich für Pele gehalten hatte, war verschwunden. Göttin oder einfache Eingeborene, sie war nicht mehr zugegen, um unsere Fragen zu beantworten.
    Zehn Meter entfernt schliefen unsere Pferde mit gesenkten Köpfen. Jenseits von ihnen erstreckten sich über Hunderte von Metern die öden Lavafelder, entweder zum Ozean oder zu den Lavakämmen hinter uns.
    Wenn uns auch nur ein Quentchen unseres gesunden Menschenverstandes geblieben wäre, hätten wir in jenem Moment eiligst unsere Kleider angezogen und wären diesem Ort entflohen. Wir hätten vor Einbruch der Nacht Kona erreichen und die dortigen Behörden über die seltsamen Vorkommnisse in Kenntnis setzen können, die sich an ihrer Südküste zutrugen. Jemand hätte zurückkommen und Reverend Haymarks Leichnam holen können.
    Doch uns war kein letztes Quentchen gesunden Menschenverstandes geblieben. Das Gefühl glich eher dem, nackt hier inmitten dieses verlassenen Amphitheaters aus Lava zu stehen: beängstigend, erregend, unerklärlich lebendig.
    Wortlos verließen wir unsere Kleiderstapel und gingen die wenigen Meter zurück zu dem Erdspalt. Scheinbar in Gedanken verloren, inspizierte Mr. Clemens abermals den vertikalen Eingang zur Höhle, hockte sich sittsam hin, legte die Kokosnußschale ab und schlang mehrere Schlaufen der Ranke um den einzigen Felsblock, der weit genug vorragte, um einen Strick daran festzumachen. Er befestigte die Ranke mit komplizierten Knoten, denen offensichtliche Übung den Anschein von Mühelosigkeit verlieh. Am Schluß blieben gut fünfzehn Meter der geflochtenen Ranke übrig.
    »Miss Stewart«, begann er, ohne mich direkt anzusehen, »ich denke noch immer, ich sollte allein...«
    »Unsinn«, fiel ich ihm ins Wort und kauerte mich dicht genug neben ihn, daß seine Haut die Wärme der meinen spüren mußte. »Ich glaube ihr, wenn sie sagt, daß es einen Mann und eine Frau braucht, um die Geister aus der Unterwelt zu führen.«
    Da sahen wir einander an, und in unseren Augen — dessen bin ich mir sicher — funkelte etwas Unerklärliches. Wer hätte gedacht, daß der Wahnsinn seine ganz eigene Logik und sein ganz eigenes Vergnügen in sich barg?
    Wir standen am Rand der Erdspalte. Mr. Clemens nahm das lose Ende der Ranke und wickelte es zu einer Art Lasso auf, das er mit einem geschickten Knoten sicherte, doch dann zögerte er, die Schlinge über meinen Kopf und meine Schultern zu streifen. Ich erkannte, daß er mich in den Abgrund hinunterlassen mußte, aber nicht wollte, daß ich als erste in die Finsternis hinabstieg. Und ich erkannte, daß es noch einen weiteren Grund gab, weshalb er zögerte, bevor er die Schlinge um mich legte.
    Ich nahm den geflochtenen Strick und streifte ihn über meine Schultern und meinen Busen. Mr. Clemens errötete, zog aber den Knoten fest, bevor der dicke Strick sich in meine Haut graben konnte.
    »Mr. Clemens, es scheint mir so, als ob Wahrheit in dem alten Sprichwort ›Kleider machen Leute‹ liegt...«, bemerkte ich, um die Anspannung des Augenblicks zu lösen.
    Er sah mich verdutzt an.
    »Nackte Leute«, fuhr ich fort, »dürften nur wenig oder gar keinen Einfluß in der Gesellschaft haben.«
    Einen Moment lang herrschte Stille, nur das entfernte Rauschen der Brandung war zu hören; im nächsten Augenblick wurde das Tosen der Wellen vom schallenden Gelächter meines Gefährten übertönt.
    »Still«, ermahnte ich ihn, »sonst wecken wir noch Pana-ewa auf.«
    Er erstickte sein Gelächter, grinste mich aber weiter an. »Oder Ku.«
    »Oder Nanaue«, erwiderte ich, »den Haifischknaben.«
    »Oder Kamapua’a«, flüsterte er. »Den Eber.«
    Wir sahen einander lange schmunzelnd an, und ich muß an dieser Stelle bekennen, daß eine sonderbare, intensive Kraft zwischen uns floß. Ich bin überzeugt, daß es die Erregung des Augenblicks gewesen sein muß, jenes Aufwallen innerer Energien und die schiere Trunkenheit, die Soldaten empfinden, kurz bevor sie in die Schlacht ziehen, aber da war noch... etwas anderes.
    Mr. Clemens zog noch einmal den Knoten fest, griff sich den losen Teil des Stricks und sprach zu mir, während er sich bereitmachte, mich in den Abgrund hinunterzulassen. »Miss Stewart«, sagte er, »das hier erinnert mich an einen Tag vor nicht allzulanger Zeit, in San Francisco war es, als ich

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