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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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sein Gehirn sich mit Blut füllte.
    Pietro Loredan, zu jener Zeit der älteste Dogenberater und stellvertretender Doge, übernahm Priulis Aufgaben bis zur Wahl eines Nachfolgers. Da fiel ihm die Prophezeiung wieder ein, denn der zukünftige Doge wäre der vierundachtzigste gewesen, und Loredan war zu dem Zeitpunkt, also wenigstens bis zum 27.   November, seinem Geburtstag, vierundachtzig Jahre alt.
    Doch trotz der düsteren Vorhersage blieb er ruhigen Muts. Denn ungeachtet des komplizierten Wahlsystems mit mehrfachen Wahlgängen hatte es im Großen Rat schon heimliche Absprachen und Machenschaften zur Genüge gegeben, undnicht weniger als vier wichtige Namen blieben zur Auswahl: Giacomo Miani, Matteo Dandolo, Girolamo Grimani und sein Freund Alvise Mocenigo, der Favorit. Der Kampf zwischen den Titanen zog sich weitere zwei Wochen lang hin. Bei der sechsundsiebzigsten Auszählung warfen die einundvierzig erschöpften Mitglieder des letzten Wahlgangs schließlich nach dem Willen von Mocenigo selbst das Ruder herum, indem sie einen Mann wählten, der von Machtspielchen weit entfernt und über jeden Verdacht erhaben war. Als Pietro Loredan am 26.   November erfuhr, er sei zum vierundachtzigsten Dogen der Serenissima erkoren worden, gefror ihm das Blut in den Adern. Er versuchte auf jede erdenkliche Weise, die Wahl abzulehnen, doch je mehr er sich wehrte, je heftiger er beteuerte, er sei ungeeignet, zu alt und zu krank, desto lauter bejubelte ihn das Volk, lobte seine Bescheidenheit und Aufrichtigkeit. Und am Ende hatte Pietro sich dem reißenden Fluss der Feste zu seiner Wahl und dem traditionellen Rundgang um den Brunnen auf der Piazza San Marco hingeben müssen, einem Ereignis, bei dem fünf Venezianer, erdrückt von der Menge, den Tod gefunden hatten, was er natürlich als Bestätigung der düsteren Prophezeiung gedeutet hatte.
    Das Gefühl jenes Tages kehrte mit Macht zurück, und Loredan schwankte sichtlich, so dass Vettor Pasqualigo, einer seiner Ratgeber und ein Freund, sich vorbeugte, um ihn zu stützen.
    »Es ist nichts«, beruhigte ihn der Doge.
    »Ich rate Euch, setzt Euch«, flüsterte der Consigliere ihm ins Ohr, um die Gesundheit seines Dogen besorgt.
    »Das tue ich, wenn die anderen es tun«, erklärte dieser brüsk. Und als er bemerkte, dass Alvise Mocenigo ihn besorgt beobachtete, fasste er sich wieder und lächelte ihm zu.
    In dieser Atmosphäre der Versöhnung, dieser Stille, die als Gedenken an die Toten entstanden war und sich in ein vorübergehendes Tauwetter zwischen einem alten, verängstigten Dogen und diesem Vertreter der Macht verwandelt hatte, ertönte just indem Moment, in dem der Sekretär Milledonne Anstalten machte, sich wieder zu erheben, aus ozeanischen Fernen hinter den Fresken und den Vergoldungen der Wände ein Klagelaut. Ein Klagelaut, der ursprünglich ein Schrei gewesen sein musste, gedämpft und verdünnt von den Wänden und Decken des Palazzo, ohne dass der Schmerz darin jedoch gemindert worden wäre.
    Die Klage wiederholte sich. Sie kam von unten, anscheinend von der Seite des Palazzo, die auf den Canale San Marco blickte. Dennoch schien keiner im Saal darauf zu achten. Der Doge wegen seiner Schwerhörigkeit, alle anderen, weil sie genau wussten, was dort unten im Halbgeschoss zwischen dem Saal der Signori di Notte und den Pozzi, einen Schritt von der Porta del Frumento entfernt, geschah.

3
    Die Folterkammer hatte einen rechteckigen, langen und schmalen Grundriss, so dass sie eher an einen Korridor gemahnte als an ein Zimmer. Die hohe Decke verstärkte diesen Eindruck, und die von der Zeit geschwärzten Eichenbalken und Paneele sowie das Fehlen von Fenstern machten den Raum düster und eng. Das genaue Gegenteil der mit Fresken verzierten Säle in den oberen Stockwerken, wo Leder, Holz und Gemälde die Wände verkleideten, vergoldetes Stuckwerk glänzte und viel Licht einfiel
    Doch die eigentliche Besonderheit war ein über eine Winde geführter daumendicker Strick, der mitten in der Folterkammer von der Decke herabhing. Daran baumelte, nackt und schlaff, der Florentiner. Wenigstens hatten ihn seine Kerkermeister so getauft, da er behauptete, er sei Filippo Tomei aus Florenz, und auch mit dem Akzent jener Gegend sprach.
    Im düsteren Licht einer Kerze hing er dort, an den Handgelenken hochgezogen, die Arme hinter dem Rücken, in einerHaltung also, deren bloßer Anblick quälend war: Die Rippen drückten so heftig gegen die Brust, als wollten sie gleich wie Krummsäbel

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