Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
den Diebstahl einem geschickten Straßenräuber oder einer Inszenierung durch Agenten der Serenissima zuschrieb. Denn es war doch ziemlich merkwürdig, dass er, kurz nachdem er das Buch und den Brief dieses Venezianers erhalten hatte, beraubt wurde. Wie auch immer, die Briefe an Karl IX., die ihm der Großwesir Sokollu Mehmet Pascha anvertraut hatte, trug er ins Zobelfutter seines Kaftans eingenäht bei sich. Er dachte an die Risiken seiner Mission. Sokollu hatte ihm gesagt: »Sie werden alles daransetzen, Eure Reise nach Paris zu verhindern.« Denn diese Sendschreiben enthielten einen sorgfältig ausgearbeiteten Plan, um dem Spanien Philipps II. einen tödlichen Streich zu versetzen. Im Mittelpunkt stand das Bündnis mit Frankreich, das Spanien den Krieg erklären sollte, indem es den Aufstand der Morisken im ehemaligen Kalifat Granada unterstützte. Als Gegenleistung würde Konstantinopel dem katholischen Herrscherhaus der Valois im Kampf um die Einheit Frankreichs gegen die Hugenotten und andere, von den Engländern bezahlte protestantische Kräfte beistehen. Dies war die militärische Seite, aber Sokollu schlug Karl auch die Verheiratung seiner Schwester Margarete mit Johann Sigismund Zápolya vor, dem Woiwoden von Transsylvanien, dem die Türken Unterstützung bei seinen Absichten garantieren, den polnischen Königsthron zu erobern.
Mahmut war schon auf viele Minarette gestiegen, doch auf dieser steilen Treppe zur Attika des Campanile erfasste ihn ein derart starker Schwindel, dass er sich an der hölzernen Brüstung festklammern musste. Eilig fasste der Glöckner ihn am Arm. All die Mühe und Angst wurden jedoch mit dem Ausblick von jenem kühnen Balkon oberhalb des Glockenraums belohnt, den der Architekt Bartolomeo Bon vor sechzig Jahren entworfen hatte, nachdem ein Blitz Satans die Spitze des Turms gespalten hatte wie das Beil den Hals eines Stieres. Dort, vor diesen zornigen Möwen, die im starken Aufwind reglos über der Piazzetta schwebten, vergaß Mahmut alle Mühen des Geistes und des Körpers und ließ sich ebenfalls in das herrliche Bild gleiten, das ihn auf allen Seiten umgab.
»Seht, Eccellenza, dort hinten, das Meer!«, rief Contarini, auf den blauen Streifen hinter dem Lido weisend. Mahmut folgte dem Fingerzeig und öffnete seine Augen für den Atem Gottes: Unter ihm erstreckte sich der Golf von Venedig weit über die Inseln und den Lido hinaus.
»Das ist Fusina!«, fuhr Contarini mit seiner Erklärung fort, auf das große Stück Land zu seiner Rechten zeigend. »Und seht Ihr diese blauen Pyramiden dort hinten? Das sind die Euganeischen Hügel.«
Während alle den Blick noch im Halbkreis schweifen ließen, stieg Beato Bringa, der aktives Eingreifen gewohnt war, rasch die Treppen des Turms hinauf, in der Hand die aus Gold gewirkte, in all ihren Teilen reparierte und wieder zusammengenähte Tasche.
»Eccellenza, Signore, wir haben sie gefunden und den Dieb gefasst!«, rief er, keuchend und von der Sonne geblendet, aus und schwenkte die Tasche.
Mahmut zeigte sich erfreut und dankbar. Er überprüfte, ob nichts fehlte, und alles war da, sogar das Geld. Nur das Buch undder Brief waren verschwunden. Aber über dieses Manko konnte er sich natürlich nicht beklagen.
89
Seit dem Erdbeben von 1511 hatte die Kirche San Domenico in Castello sich immer weiter nach rechts geneigt und um etwa drei Fuß vom Campanile getrennt. Zwar konnte diese Neigung, von außen gesehen, nur Fremde beeindrucken, doch im Inneren beunruhigten die schiefen Flächen und Ebenen sogar jene Dominikanerpatres, die aus dem ehrwürdigen und insgesamt etwas schiefen Venedig stammten. Darum pflegte der zelebrierende Pater jeden Sonntag am Ende der Messe nach dem Segen dem Herrgott dafür zu danken, dass die Kirche noch stand.
Padre Aurelio Schellino, in Brescia geboren, vertraute eher seinem gesunden Menschenverstand als Gebeten und der göttlichen Gnade und wohnte der Messe darum an der äußersten linken Ecke der Kirche bei, einen Schritt vom Seiteneingang entfernt und bereit, beim leisesten Nachgeben und Knirschen zu fliehen. Durch diesen Eingang kam, während des Schweigens, das auf den Segen folgte, Andrea in Begleitung eines Dominikaners. Der Anwalt näherte sich dem Inquisitor, begrüßte ihn und fragte, ob er mit ihm über Signora Sofia Ruis sprechen könne.
Jedes Wort von Schellinos Antwort war in Stein gemeißelt. »Die Kirche zu betreten, verehrter Avvocato, wird niemandem verwehrt, und ich kann mit Euch über alles
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