Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
wie der Mann die Sanduhr umdrehte. Alles in Ordnung. Die Kabinentür schloss sich wieder.
Am Ruder kehrten die Gedanken zurück. Die Gedanken waren Rettung und Verdammnis. Jeder hatte seine eigenen, meistähnelten sie einander: das verlorene Leben, verlassene Lieben, Schandtaten, die gerächt werden mussten, Überlebenstechniken, der Gedanke an Flucht. Andrea dachte beim langsamen Rudern an seinen Vater. Wenige Tage nach der Ankunft in Kreta hatte er die Nachricht von seinem Tod erhalten. Marco Querini, sein Befehlshaber, hatte sie ihm überbracht. Andrea fühlte den beißenden Schmerz, als man im Hafen und auf der Galeere schon von nichts anderem sprach. Bei Sonnenuntergang hatte der Kaplan eine Messe im Achterkastell gehalten, sie hatten das Requiem gesungen. Auf den Ruderbänken wurden schon flüsternd Wetten auf den neuen Dogen abgeschlossen: Alvise Mocenigo war der Meistgenannte, Andrea Barbarigo folgte als Hoffnung weniger, und dann waren da noch Nicolò da Ponte, Nicolò Gritti und Lorenzo da Mula.
Andrea spürte, wie der Steuermann leicht nach steuerbord drehte, um die vom Schirokko hervorgerufene lange Dünung mit dem Bug zu nehmen. Er dachte an Sofia, sah ihr verzweifeltes Gesicht vor sich. Er hörte ihre Stimme und stellte sich vor, dass sie in den Bergen nördlich von Bologna unterwegs war. Er sah sie in Florenz, wohin Filippo Tomei sie und Gabriele bringen wollte. Andrea war zweimal in Florenz gewesen, einmal als Junge, ein anderes Mal in Begleitung seines Vaters. Mit dem Karren hatte er von Venedig eine Woche gebraucht. Zu Pferd fünfeinhalb Tage. Schön war Florenz, auch das umgebende Land mit den alles beherrschenden, bedächtigen Rhythmen seines bäuerlichen Lebens, das die Hektik des Kaufmannsdaseins ein wenig besänftigte. In Venedig, auf den Ungewissheiten des Wassers aufgebaut, gab es so etwas nicht. Das sah man auch daran, wie hastig die Menschen durch die Calli eilten.
Er stellte sich Sofia heiter vor. Als geschickte Näherin und Stickerin würde sie im Florenz der Tücher und Wollstoffe mit Tomeis Hilfe sicher eine Arbeit finden. So wollte er sie sich vorstellen. In Wirklichkeit wusste er gar nichts mehr von ihr. Es war zu gefährlich, einander zu schreiben. Alle Briefe wurden vonden Kapitänen geöffnet und dann erst verteilt. Er dachte an die vielen Briefe, die er bis zu diesem Tag für seine Kameraden geschrieben oder vorgelesen hatte. Er dachte an die Briefe, die ihm Jacomo Dragan geschickt hatte. Fünf. So viele, wie Flotten mit Waffen und Soldaten in Kreta eingetroffen waren. Andrea bewahrte diese Briefe auf, zusammen mit den dreien von Francesco d’Angelo. Von seinem Bruder Alvise waren zwei angekommen, im nüchternen Stil eines Bordbuchs verfasst, wo sogar die Beerdigung ihres Vaters wie die Einfahrt eines Schiffes in einen unbekannten, fremden Hafen beschrieben war. Ein kalter, detaillierter Bericht von der Begräbnisfeier des Vaters, die wegen des Regens in San Marco abgehalten wurde, von den gemeinen Rufen des Volkes, als der Sarg achtmal vor dem Kirchentor hochgehoben wurde: »Er ist tot! Der Doge mit dem Hirsebrot ist tot!« Dann die Bestattung im Kreuzgang von San Giobbe in Cannaregio.
3
Acheloos, der Sohn des Okeanos und der Tethys, kämpfte mit Herkules um die Hand von Deianeira und verlor.
Sie hatten die ganze Nacht in wechselnden Mannschaften gerudert, um in Petalas Frischwasser zu schöpfen. Der Wind war ihrem Kurs gefolgt, aus dem Schirokko war ein Levante geworden, der das Vorankommen der beiden Brigantinen noch mehr erschwerte. Am Abend zuvor hatte Admiral Marco Querini sich großzügig gezeigt und Zwieback, Bohnen, gepökeltes Schweinefleisch, Käse aus Piacenza, Öl, Zucker und zwei Fässchen Malvasier an die Mannschaften ausgeteilt. Dann hatte er den Brigantinen Befehl gegeben, mit einer Botschaft für den Gouverneur Cavalli nach Candia zurückzurudern. Er hatte mit Andrea gesprochen, ihm seine große Wertschätzung und Zuneigung ausgedrückt und ihm einen persönlichen Brief für Cavallimitgegeben, in dem er Andrea für seinen Mut und seine Ehrlichkeit lobte und den Gouverneur bat, Andreas Rückkehr nach Venedig zu erleichtern.
Jetzt galt es, Wasservorräte zu holen, denn in Giuscardo und Val d’Alessandria hatte man das vermieden, aus Angst, die Türken könnten die Brunnen vergiftet haben. Trinkwasser war lebensnotwendig, und im Kielraum lagen, in den Ballastsand gebohrt, dreißig große Glaskrüge mit breitem Hals, die zwei Fässer Wasser aufnehmen
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