Die Feuer von Troia
glitt.
In diesem Augenblick fragte Hektor, der zwischen Andromache und Kassandra stand: »Du, die ungefragt ständig Dinge prophezeist, was siehst du für dieses Schiff?«
Kassandra erwiderte leise: »Ich sehe nichts. Vielleicht ist das das beste aller Zeichen.« Sie konnte sehen, daß das Schiff wie das Gesicht eines Gottes umgeben von einem goldenen Glanz zurückkehrte, sonst nichts. »Aber ich glaube, es ist gut, daß du nicht fährst, Hektor.
»So sei es«, sagte Hektor. Paris kam, um sich zu verabschieden. Er drückte Hektor freundschaftlich die Hand und umarmte Kassandra mit einem Lächeln. Er küßte seine Mutter und sprang an Bord. Die königliche Familie sah zu, wie das Schiff aus dem Hafen glitt und das große Segel sich im Wind blähte. Paris stand schlank und aufrecht am Heck und hielt das Steuerruder. Sein Gesicht leuchtete in der Abendsonne. Kassandra nahm die Hand ihrer Mutter vom Arm, ging durch die jubelnde Menge davon und geradewegs zu einer großen, schlanken Frau, die den Blick unverwandt auf das Segel gerichtet hielt, bis es nur noch die Größe eines Spielzeugs hatte.
»Oenone«, sagte sie, denn sie kannte Oenone seit dem Augenblick, als sie mit Paris die junge Frau wie in den eigenen Armen gehalten hatte. »Was tust du hier? Warum bist du nicht gekommen, um ihn wie seine anderen Angehörigen zu verabschieden?«
»Als ich mich in ihn verliebt habe, wußte ich nicht, daß er ein Prinz war«, antwortete Oenone. Ihre Stimme war leicht und melodisch und ebenso schön und anmutig wie ihre Gestalt. »Wie könnte ein einfaches Mädchen wie ich mich neben den König und die Königin stellen, während sie sich von ihrem Sohn verabschieden?«
Kassandra legte den Arm um Oenone und sagte freundlich: »Du mußt in den Palast kommen und dort leben. Du bist seine Gemahlin und die Mutter seines Kindes. Deshalb werden sie dich lieben, wie sie Paris lieben.« Und wenn nicht, dachte sie, können sie einfach um der Ehre der Familie willen so tun, als liebten sie dich. Wenn man bedenkt, daß er gegangen ist, ohne ihr Lebwohl zu sagen!
Über Oenones Gesicht strömten Tränen. Sie umklammerte Kassandras Arm.
»Man sagt, du bist eine Prophetin und kannst die Zukunft sehen«, stieß sie schluchzend hervor, »sage mir: Wird er zurückkommen? Sage mir: Wird er zu mir zurückkommen?«
»Oh, er wird zurückkommen«, sagte Kassandra. Er wird zurückkommen… aber nicht zu dir. Die Heftigkeit ihrer Gefühle verwirrte sie. Sie sagte: »Ich werde mit meiner Mutter über dich sprechen« und ging mit Andromache zu Hekabe. Andromache sagte leicht vorwurfsvoll: »Aber Kassandra, wie kannst du nur? Ein Bauernmädchen … Und du willst sie in den Palast bringen?«
»Sie ist kein Bauernmädchen. Sie ist von ebenso guter Herkunft wie wir beide«, erwiderte Kassandra, »du mußt dir nur ihre Hände ansehen, um das zu erkennen. Ihr Vater ist ein Priester des Flußgottes Skamander. «
Sie gebrauchte dieses Argument auch Hekabe gegenüber, die sofort zustimmte: »Natürlich, wenn sie ein Kind von Paris bekommt, müssen wir gut für sie sorgen, damit ihr nichts fehlt.« Sie zögerte und fragte sich: »Aber sollen wir sie deshalb gleich im Palast aufnehmen? Und wieso bist du dir eigentlich so sicher, Kleines?«
Doch als sie Oenone sah, bezauberte sie die Schönheit der jungen Frau sofort. Sie wies ihr einige Gemächer hoch oben im Palast zu, die hell und luftig waren, und von denen aus man das Meer sah. Sie standen leer und rochen nach Mäusen. Aber Hekabe sagte: »Niemand hat die Räume benutzt, seit Priamos’ Mutter hier gelebt hat. Wir werden die Handwerker kommen und sie für dich herrichten lassen, Liebes, wenn du ein oder zwei Nächte so mit ihnen vorliebnimmst. «
Oenone erwiderte mit großen, beinahe ungläubigen Augen: »Du bist so freundlich zu mir, Herrin. Sie sind viel zu gut für mich. «
»Sei nicht dumm«, sagte Hekabe energisch, »für die Frau meines Sohnes - und bald auch für seinen Sohn - ist nichts zu gut, glaub mir das. Also wir werden die Handwerker aus Kreta nehmen. Es gibt welche hier, die einige Häuser in der Stadt mit Wandbildern schmücken, und andere, die Vasen und Ölkrüge bemalen. Ich werde sie morgen kommen lassen. «
Sie hielt Wort, und in ein, zwei Tagen kamen die Kreter, um die Räume zu verputzen und die Wände mit festlichen Szenen zu bemalen: große weiße Stiere und die springenden Stiertänzer von Kreta in lebensechten Farben. Oenone war entzückt von den hübschen
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