Die Feuer von Troia
jetzt ab wirst du die Frauengemächer morgens nicht mehr verlassen, bis du deinen Teil beim Spinnen und Weben getan hast. Du solltest dich schämen, deine Arbeit deinen Schwestern zu überlassen. Hast du bei den Frauen meines Stammes nur Faulheit gelernt?«
»Ich bin nicht müßig«, widersprach Kassandra empört. War dies das Zeichen, um das sie gebeten hatte? »Der Gott hat mich gerufen, und ich werde in SEINEM Tempel gebraucht.«
Hekabe kniff die Augen zusammen und sah sie strafend an. »Kassandra, die Götter wählen ihre Priesterinnen aus dem einfachen Volk. Sie rufen keine troianische Prinzessin.«
»Glaubst du, ich sei weniger würdig als irgendeine andere?« fragte Kassandra. »Seit ich ein Kind war, weiß ich, daß Apollon, der Sonnengott, mich für SICH haben will. Jetzt hat ER mich gerufen!«
»Ach Kassandra«, seufzte Hekabe, »was redest du für einen Unsinn?« Aber Kassandra hörte nicht mehr zu. Sie drehte sich um, lief die Treppe hinunter, durch das große Palasttor hinaus und eilte den Hügel hinauf zum Tempel des Sonnengottes.
18
Kassandra rannte die Stufen der Straße hinauf, die sich vom tiefsten bis zum höchsten Punkt der Stadt zog. Sie bemerkte kaum, daß die Frauen, die in den dicht gedrängten Häusern entlang der steilen Straße lebten, scharenweise in den buntgefärbten Kleidern herausliefen und ihr verwundert nachstarrten. Ihr klopfendes Herz zwang sie schließlich, langsamer zu gehen und schließlich stehenzubleiben.
Sie krümmte sich. Ihr war übel. Man hatte ihr mit aller Härte beigebracht, vor Fremden immer ihre Würde zu wahren. Sie preßte den weiten Ärmel auf den Mund und versuchte, die Übelkeit und den stechenden Schmerz in der Brust zu ertragen. Sie hielt nach einer Stufe Ausschau, auf die sie sich setzen und wo sie ausruhen konnte. Sie wollte nicht völlig aufgelöst wie eine Flüchtende am Tor des Sonnengottes erscheinen.
Eine freundliche Stimme sagte: »Prinzessin… « Kassandra blickte auf und sah eine alte Frau, die sich mit einem Tonbecher in der Hand über sie beugte. » Du bist zu schnell in der Hitze hier heraufgestiegen. Darf ich dir etwas Wasser anbieten? Ich kann dir auch gekühlten Wein bringen, wenn es dir gefällt hereinzukommen.« Der Gedanke, in das kühle schattige Haus zu treten, war verlockend. Aber Kassandra hätte sich geschämt, eine Schwäche zu zeigen oder einzugestehen.
Wie kann die Sonne mir schaden? Apollon, der Sonnengott, liebt mich … Sie sagte das nicht laut. Sie bedankte sich leise und setzte den Becher an die Lippen. Das Wasser schmeckte leicht nach Ton und war nicht allzu kalt. Aber es tat ihren trockenen Lippen und der ausgedörrten Kehle gut.
»Willst du dich in meinem Haus ausruhen, Prinzessin?«
»Nein danke.« Sie sah die alte Frau nicht an. »Es ist schon wieder gut. Ich bleibe hier sitzen und ruhe mich kurz aus.« Das Licht schmerzte ihr in den Augen. Sie legte schützend die Hand darüber und blickte hinunter auf das glitzernde Wasser im Hafen. Die Sonne blendete sie, und alles verschwamm vor den Augen. Dann sah sie es deutlich und hätte beinahe aufgeschrien: Die Segel vieler Schiffe verdunkelten das klare Blau des Meeres.
So viele! Woher sind sie gekommen?
Es waren nicht die Schiffe ihres Vaters. Jedesmal, wenn sie versuchte, eines eingehender zu betrachten, war sie sich nicht sicher, daß es überhaupt vorhanden war. Nach einigen Augenblicken lag in dem flimmernden Hafen mit dem gleißenden blauen Wasser nur noch ein altes kretisches Schiff, das seit drei Tagen Farben und Holz entlud. Also war es nur eine Vision … eine Sinnestäuschung.
Sie zwang sich, die schmerzenden Augen vom trügerischen Wasser zu wenden, stand langsam auf und stieg weiter nach oben. Sie kniff die Augen vor der Sonne zusammen, die wie ein Feuer leuchtete, das sich über die ganze Stadt bis zu den Mauern ausbreitete. Während sie langsam immer weiter nach oben stieg, wuchs in ihr das Gefühl, daß es albern war, so davonzulaufen. Man floh nicht zu einem Gott wie eine verirrte Ziege, die aus der Herde ausbricht. Sie hätte kommen sollen, o ja. Aber sie hätte wie eine troianische Prinzessin kommen sollen - in der angemessenen Begleitung und mit Geschenken, wie sie sich für das Haus des Gottes ziemten.
Trotzdem, es wäre falsch, jetzt umzukehren. Oder war die trügerische Vision der Schiffe als Warnung gedacht… ? Nein, selbst dann konnte sie ihr Versprechen, das sie dem Gott gegeben hatte, nicht zurücknehmen.
Sie ging weiter und
Weitere Kostenlose Bücher