Die Feuer von Troia
Priamos, »aber wer könnte es sonst gewesen sein? Wenn es nicht die Götter waren, dann würde es bedeuten, es gibt auf der Erde nur Chaos. Poseidon ist einer der größten Götter hier in Troia, und wir bitten ihn, daß die Erde unter unseren Füßen fest bleibt.«
»Möge es lange so sein«, murmelte Kassandra inbrünstig, und da sie feststellte, daß die Aufmerksamkeit ihres Vaters sich inzwischen wieder auf den Weinbecher richtete, bat sie leise und höflich darum, gehen zu dürfen. Ihr Vater nickte zustimmend.
Sie ging in den Hof hinaus und hatte vieles, um darüber nachzudenken. Wenn sich das große Erdbeben tatsächlich ereignet hatte (sie hatte in ihrer Kindheit davon gehört - es lag mehrere Jahre vor der Geburt ihres Vaters Priamos), war es vielleicht ein ausreichender Grund dafür, daß die Verehrung der Erdmutter in schlechten Ruf geraten war - außer vielleicht bei den Amazonen.
Im Hof herrschte geschäftiges Treiben. Es war ein strahlend schöner Tag. Die Handwerker gingen ihrer Arbeit nach. Die Männer, die hoch oben im Palast die Gemächer ausmalten, die Oenone für Paris zugeteilt worden waren, zerrieben Farberden zu Staub und mischten sie mit Öl; Tallymänner mit ihren Kerbhölzern zählten Weinkrüge, die als der Zehnte in einem der Schiffe angekommen waren, die im Hafen ankerten. Krieger übten mit den Waffen. Weit draußen vor der Stadt sah Kassandra eine Staubwolke, die möglicherweise von Hektor stammte, der vielleicht das neue Gespann seines Streitwagens erprobte. Sie ging ungesehen wie ein Geist zwischen den Männern hindurch.
Als wäre ich eine Zauberin und hätte mich unsichtbar gemacht, dachte sie und überlegte, ob sie das vielleicht wirklich tun könnte, und ob es etwas ändern würde, wenn es so war.
Ohne besonderen Grund fiel ihr Blick auf einen jungen Mann, der pflichtbewußt mit seinem Kerbholz zählte und Wachs auf die Schnüre goß, mit denen die großen Öl- oder Weinkrüge verschlossen waren - er drückte das Siegel hinein, das zeigte, daß sie für den Haushalt des Königs bestimmt waren. Er schien unter ihren Blicken leicht unruhig zu werden und schlug die Augen nieder. Kassandra errötete. Man hatte ihr gesagt, es schicke sich nicht für ein Mädchen, junge Männer anzustarren. Kassandra sah zur Seite. Aber er zog ihren Blick wieder auf sich. Der junge Mann schien zu strahlen. Seine Augen veränderten sich eigenartig und wurden beinahe leer. Dann richteten sie sich auf Kassandra, und er hob den Kopf. Er schien größer zu werden, sie zu überragen. Ja, er sah sie, Kassandra, unverwandt an. Blitzartig erkannte sie, welcher Gott von ihm Besitz ergriffen hatte, denn sie blickte wieder in das Gesicht des Sonnengottes Apollon.
Seine Stimme grollte wie Donner, so daß sie sich in einem Winkel ihres Bewußtseins fragte, wie die anderen Männer so ruhig bei ihrer Arbeit bleiben konnten.
Kassandra, Tochter des Priamos, hast du MICH vergessen?
Sie flüsterte kaum hörbar: »Niemals, mein Gott.«
Hast du vergessen, daß ICH meine Hand auf dich gelegt und Besitz von dir ergriffen habe?
Wieder flüsterte sie: »Niemals.«
Dein Platz ist in MEINEM Tempel. Komm, ICH befehle es dir.
»Ich werde kommen«, sagte sie halblaut, ohne den Blick von der strahlenden Gestalt zu wenden. Dann kam der Aufseher durch den Hof; das Licht um den jungen Mann blendete sie plötzlich, und er verschwamm in der Sonne…
Die Vision war verschwunden, und Kassandra fragte sich, ob sie tatsächlich in den Tempel des Sonnengotts befohlen worden war. Sollte sie ihren Umhang, ihre Schlange nehmen und auf der Stelle hinauf zum Platz der Götter steigen? Sie zögerte. Wenn sie das alles nur geträumt hatte, wenn es nicht wirklich geschehen war, was würde sie den Priestern und Priesterinnen im Tempel sagen? Ganz bestimmt standen Strafen auf eine solche Gotteslästerung … Nein. Sie war die Tochter des Priamos, eine Prinzessin von Troia, und sie war Priesterin der großen Mutter geworden. Sie mochte sich irren, aber ganz sicher war es keine Gotteslästerung oder etwas, das sie unbeachtet lassen konnte. Sie kehrte in den Palast zurück und flüsterte dabei: »Wenn ich gerufen worden bin, Apollon, schicke mir ein Zeichen.«
Auf der großen Treppe begegnete sie Hekabe, die ein Werktagskleid trug. Die gerunzelte Stirn ließ sie älter erscheinen.
»Du bist müßig, Tochter«, sagte Hekabe tadelnd, »wenn du dich nicht selbst beschäftigen kannst, werde ich eine Aufgabe für dich finden. Von
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