Die Feuer von Troia
zu suchen, arm sind. Wenn wir uns mit Schmuck behängen würden, könnten sie das Gefühl haben, wir würden uns an ihren Opfern bereichern.
Ich heiße Charis«, sagte sie, »das ist einer der Namen der Erdgöttin. Ich lebe im Haus des Sonnengottes, seit ich neun Winter alt war, und jetzt bin ich sieben-und-vierzig. Wir leben lange, es sei denn, wir werden ausgewählt, dem Gott ein Kind zu gebären, und wir sterben im Kindbett. Aber das kommt nicht oft vor, und viele unserer Brüder und Schwestern sind Heilpriester. Hast du die Erlaubnis deiner Mutter oder deines Vaters, hier im Haus des Gottes zu wohnen?«
Kassandra sagte: »Ich glaube, meine Mutter wird zustimmen. Und mein Vater … nun ja, er hat so viele Söhne und Töchter, daß ich glaube, es wird ihm gleichgültig sein, ob ich im Haus des Gottes oder in seinem lebe. Ich war nie sein Liebling. «
»Aber sag mir«, fragte Kassandra die alte Priesterin, »darf ich meine Schlange hier im Tempel bei mir haben? Sie ist ein Geschenk von Imandra, der Königin und Priesterin von Kolchis, und niemand in Troia außer mir liebt sie. Ich fürchte, man wird sie vernachlässigen, wenn ich nicht da bin, um für sie zu sorgen. «
»Sie ist willkommen«, antwortete Charis, »du darfst sie bringen lassen.« Die alte Priesterin rief eine Dienerin, und Kassandra gab ihr genaue Anweisung, was sie aus dem Palast gebracht haben wollte. »Und geh zu Königin Hekabe, meiner Mutter«, fuhr sie fort, »und sage ihr, ich bitte um ihren Segen.«
Die Dienerin verneigte sich und ging. »Wenn du möchtest«, sagte Charis, »werde ich dir jetzt die Räume zeigen, in denen die Jungfrauen des Sonnengottes schlafen. «
Damit begann die Zeit, an die sich Kassandra später als die glücklichste und friedlichste ihres Lebens erinnerte. Sie lernte, die Orakel zu befragen, die Zeichen zu lesen und die ausgewählten Opfergaben im Heiligtum darzubringen. Sie sorgte für die heiligen Schlangen und lernte, ihre Bewegungen und ihr Verhalten zu deuten. Wie vorausgesehen, machte ihre Mutter keine Schwierigkeiten. Sie schickte mit der Dienerin Kassandras Sachen und eine Botschaft: »Sage meiner Tochter Kassandra, daß ich sie segne und gutheiße, was sie getan hat.«
Sehr bald hatte Kassandra viele Freunde und Freundinnen im Heiligtum. Schon nach wenigen Monaten kamen viele Bittsteller und Fragende zu ihr. Sie sahen es lieber, wenn Kassandra ihre Opfergaben entgegennahm und ihnen Ratschläge gab. Einmal fragte sie einen älteren Priester: »Ich verstehe es nicht. Weshalb kommen sie zum Gott, um IHM diese albernen Fragen zu stellen, für die sie nicht den Rat eines Gottes brauchen, sondern nur den Verstand, mit dem sie geboren wurden?«
»Weil so viele von ihnen als Dummköpfe oder Schlimmeres geboren sind«, erwiderte der Priester unverblümt, »sie glauben, die Götter haben nichts Besseres zu tun, als sich mit den Angelegenheiten der Menschen zu befassen. Ich glaube, die Götter haben zu viele eigene Sorgen im Land der Unsterblichen, um sich auch noch um die Angelegenheiten einfacher Menschen zu kümmern. Vielleicht tun sie es bei Königen und den Großen, aber -«, er senkte den Blick und sagte beinahe flüsternd, »selbst dafür habe ich wenig Beweise gesehen, Tochter des Priamos.«
Kassandra war entsetzt über diese Gotteslästerung. Aber sie dachte: Wenn der Priester nicht an den Gott glaubt, schadet er eher sich und weniger anderen. Solange Kassandra im Heiligtum lebte, hatte sie stets ein starkes und oft überwältigendes Gefühl von der Anwesenheit des Gottes, so wie damals, als ER sie zum ersten Mal gerufen hatte.
Das heißt nicht, daß ihre Zeit im Tempel völlig sorgenfrei war. Einige der Jungfrauen waren offen eifersüchtig auf Kassandra, weil sie bei den älteren Priestern und Priesterinnen sehr beliebt war. Und wenn sie mit ihr oder über sie sprachen, waren sie unfreundlich oder gehässig. Aber Kassandra war bei gleichaltrigen Mädchen nie sonderlich beliebt gewesen - nicht einmal bei ihren Schwestern und Halbschwestern (ausgenommen bei den Amazonen) - und hatte sich damit schon als Kind abgefunden.
Meistens hatte sie das Gefühl, von liebevoller Aufmerksamkeit umgeben zu sein. Wie konnte es auch anders sein, wenn sie im Haus ihres Gottes lebte? Viele Frauen im Heiligtum sprachen vom Sonnengott wie andere von einem Ehemann oder Liebhaber. Eine der üblichen Bezeichnungen der Priesterinnen war sogar »die Gottesbräute«. Von einer Frau, von Phyllida, sagte man, sie sei sogar
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